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Stabile Seitenlage

oder: Die Angst vor dem Leben 

Neues Jahr – neues Glück? Oder: Neues Jahr – alte Probleme? Wer von uns weiß schon, was die Zukunft bringt?!

Eine frühere Patientin von mir, Lehrerin an einer Berufsschule, sah immer schwarz. Ich bat sie, am Beginn des Jahres aufzuschreiben, was in den kommenden zwölf Monaten auf sie einprasseln würde. An welchen Herausforderungen sie scheitern wird. Welche Dramen sich in ihrem Leben abspielen könnten: Krankheiten, Enttäuschungen, Überforderungen. Und: Dass irgendjemand, vielleicht ein Kollege … schlimmer noch, das ganze Kollegium, in diesem Jahr dahinterkommt, dass sie in ihrem Beruf eine totale Versagerin ist. Eine Hochstaplerin, die sich in das Lehramt hineingemogelt hat. 

Ihre typischen Sätze dazu: „Ich bin nichts!“ – „Ich kann nichts!“ Oder auch: „Ich bin ein menschlicher Gesamtfehler!“ Rot angestrichen! 

Das Jahr verging – und am Jahresende nahmen wir uns die Liste erneut vor. Und ich fragte sie: „Wieviel Prozent Ihrer Befürchtungen sind in den vergangenen zwölf Monaten eingetroffen?“ – Ihrem Gesicht war anzumerken, dass sie sich große Mühe gab, den Nachweis ihres Totalversagens und der Hochstapelei zu erbringen. Die Zeit verging … 

„Ja, und welche Katastrophen sind tatsächlich und nachweislich eingetreten?“ Leichter Schweiß stieg auf ihre Stirn. Sie gab sich wirklich die größte Mühe. Dann nach einigen Minuten, die unausweichliche Erkenntnis: „Tatsächlich – anscheinend … nichts!“ 

Ich lächelte. „Für nichts – und wieder nichts – haben Sie sich ein ganzes Jahr verrückt gemacht. Klug scheint mir das nicht zu sein!“

Viele Menschen leiden an generalisierten Angststörungen. Grübeln Tag und Nacht. Zumindest aber in der einen oder anderen Stunde. Manchmal verständlich, wenn das Geld knapper wird. Oft aber grübeln Menschen über Dinge, die wir nicht beeinflussen können. Für die es keine Gewähr gibt. Denn ein Leben ohne Risiken gibt es nicht: Jedem von uns kann ein Dachziegel auf den Kopf fallen. Im kleinen Häuschen kann der Keller überflutet werden. Und das Auto kann auf dem Weg in den Urlaub mit Motorschaden liegen bleiben. Kann … muss aber nicht.

Ich kann auch die Kündigung erhalten. Oder meine Beziehung geht in die Brüche. Ja … ich kann aber auch in der Lotterie gewinnen oder einem Menschen das Leben retten und dafür geehrt werden. Ich kann dankbar für jede kleine Freude sein und Lachfältchen bekommen. Ich kann das Vertrauen in mich wieder stärken und alleine auf Reisen gehen. Alles ist möglich in diesem neuen Jahr.

Es ist unsere Entscheidung, ob wir durch die Grübelattacken ruhelos werden, nervös und gereizt. Oder ob wir uns sagen: Heute Nacht gehe ich in eine stabile Seitenlage – und lass mich vom Leben überraschen. Es kann ja auch sein, dass wir einen guten Schlaf haben und von glücklichen Momenten träumen. Dafür ist eine stabile Seitenlage immer gut. Und dann fehlen uns vielleicht nur noch Demut und Geduld, um sagen zu können: Gut, wird schon werden … 

In herzlicher Verbundenheit

Ihr Georg Rupp