man walking on dirt road covered by snow

Ein Wintertag am Niederrhein

Schneetreiben. Dabei bewegt sich das Jahr schon in Richtung Ostern. Da ist die Sehnsucht nach Sonne und Wärme in den meisten Herzen aufgebrochen. Reiseveranstalter werben mit Frühbucher-Rabatt. Und die App wird als „App in den Süden“ angepriesen. 

An Silvester war es hier bei uns um Mitternacht noch 16 Grad. Plus, wohlgemerkt. Da gingen wir im Pullover auf die Straße, um mit der Nachbarschaft anzustoßen. Auf ein gutes neues Jahr. Von dem man ja nie weiß, was es im Schilde führt. 

Und jetzt holt der späte Winter so einiges nach. Die Flocken fallen ohne einen Rhythmus einzuhalten. Es sind Mini-Flocken, die herumpurzeln. Manche stürzen senkrecht auf den Rasen vor unserer Terrasse. Andere treibt der Wind vor sich her. Fallen schräg nach unten. Dem Rasen wird es egal sein. Die langen Halme recken sich nach oben, als wollten sie sich nachdrücklich behaupten. Wenn man Ohren hätte, das Gras wachsen zu hören, dann rief es womöglich: Wir sind schon da. Aus dem Winterschlaf erwacht. Kämpfen mit der weißen Pracht um die Dominanz im Garten. 

Für einen Schneemann – oder eine Schneefrau (wird hier jetzt auch gegendert?) – reicht es noch nicht. Höchstens für einen Schneemann-Nachwuchszwerg.  

Ein weißes Laken überzieht die Fläche. An einer kleinen Schneeflocke bleibt mein Auge hängen. Sie stoppt ihren freien Fall einen Meter über dem Rasen. Schaukelt hin und her. Als wollte sie es sich noch einmal überlegen. Nach rechts? Nach links? Im Kreis? Wieder nach oben? – Nein, jetzt geht es doch runter ins Parterre … 

‚Manchmal täte es uns gut‘, sinniere ich, ‚wenn unser Leben flächendeckend verhüllt wäre. Zumindest zeitweise. Dass etwas Neues wachsen und erblühen kann.‘ –

‚Wie in der Psychotherapie‘, erhellt mich ein Gedanke. Da gibt es ja auch aufdeckende und zudeckende Verfahren. Ich habe meistens „zudeckend“ gearbeitet. Den ganzen alten Kram hochzuholen, ist oft zu belastend. Und unnötig. Nicht immer, aber meistens. 

Das Alte ruhen lassen – und Ressourcen wecken. Schnee drüber … und nach vorne arbeiten. Alles tun für ein gelingendes Leben. Neue Samen zum Aufkeimen bringen. Ideen säen und ernten. Gute Gedanken verankern. Erinnerungen einen neuen Rahmen verpassen. Das Heitere zulassen und fördern. 

Was unter dem Schnee liegt, ruhe in Frieden. 

Oder, wie es mein verstorbener Mentor Wolf Büntig so eindrücklich sagte: „Alles, was war, ist genau so gewesen.“ Jede Silbe betonte er, wenn er den kurzen Satz mit einem leichten Kopfnicken aussprach. „Alles … was war … ist … genau so … gewesen.“ Und fuhr fort: „Ich weiß nicht, was es ist. Aber der Satz hat eine heilende Wirkung.“ Ein Einverständnis mit allem, was war, und nicht mehr zu ändern ist. Ein „Ja“ zum eigenen Leben. Um der Seele wieder Frieden und Raum zu schenken. Um wieder anzukommen bei sich selbst. In der eigenen Mitte. Im Vertrauen darauf, dass es weiter geht im Leben. Und gut werden kann. 

Wolf war ein Meister der Psychotherapie. Ein weiser Lehrer. Er fehlt mir. – Aber er hat Samen gesät, die in allen, die ihn kennenlernen durften, aufgegangen sind. Kein Thema war ihm zu schwer, um es menschenfreundlich zu behandeln. Immer zugewandt und offen. 

Sein Grab im bayrischen Penzberg wird jetzt auch von einer Schneedecke liebevoll und sanft verhüllt sein. 

Bei allem Frost … Erinnerungen wärmen das Herz. Das Gute bleibt bewahrt. 

Mein Blick fällt wieder nach draußen. Und ich stelle fest: Auf einmal haben sich die Flocken verändert. Größer und schwerer scheinen sie geworden zu sein. Haben sich miteinander verbunden. Tanzen weiter im Reigen. Folgen aber schneller der Schwerkraft. Decken nun alle vorwitzigen Grashalme zu. Nichts bleibt für das Auge – außer dieser weißen Fläche, die alles übertüncht. Den Frieden auf den Feldern spürbar macht. Und die Seele befreit aufatmen lässt. 

Wolf, Du Fährmann der Seele, wir sehen uns irgendwann jenseits von Sonne, Regen und Schnee. Auf der anderen Seite, wenn uns nichts mehr verhüllen kann. Im Raum der reinsten Weltenseele.

‚Weise war er, der Wolf!‘ 

Jetzt lächle ich in den Schnee hinaus. 

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp