close up of justice symbolic figurine

Selbstsabotage-Programme

Kaffee! Die Kaffeemaschine steht wieder bereit. Ohne Maske darf man hier wieder Kaffee trinken. – Nein, ich sitze in keinem Café. Ich habe es mir im Wartebereich des Autohauses gemütlich gemacht. Der Reifenwechsel steht an. Es geht in den Frühling hinein. In vier Tagen soll schönes und warmes Wetter sein. Sagt der Wetterbericht. Ein traumhaftes Osterfest steht vor der Türe.

Niemand wartet mit mir. Viele werden schon jetzt unterwegs sein.

Warum wird der Kaffee kalt? Weil ich mit dem Schlafdefizit der letzten Nächte kämpfe. Mir fallen die Augen zu … 

Als ich sie wieder öffne, erblicke ich ein mittelgroßes Schild auf dem Beistelltisch in der Ecke. „Lob oder Kritik?“ steht da. Und: „Ihre Meinung ist uns sehr wichtig.“ Die Dienstleistung hier im Haus soll bewertet werden. Qualitätsmanagement ist gefragt.

Und mir fällt ein, wie viele Menschen sich selbst bewerten. Und wie oft negativ. Die Therapeuten bezeichnen das oft als persönliche „Selbstsabotage-Programme“. Menschen bringen sich um die Früchte ihres Lebens, weil sie sich selbst zugrunde richten. Sie richten sich selbst – mit einem Ergebnis, das niederschmetternder ist als das Urteil einer Gerichtsverhandlung. 

Michaela (Name geändert) hatte ihre Selbstsabotage gut trainiert. Schon über Jahrzehnte. Bereits ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass sie nicht liebenswert sei. „Nimm Dir ein Beispiel an Deiner älteren Schwester“, sagte sie. Und: „Warum kannst Du nicht so unkompliziert sein wie sie?!“

Wenn ihre Mutter besonders schlecht drauf war, konnte sie auch die Bemerkung fallen lassen, dass Michaela ja gar nicht mehr geplant gewesen sei. Auch wäre die Schwangerschaft eine einzige Katastrophe gewesen.

Die Folgen kann sich jeder Mensch ausmalen: Permanente Schuldgefühle, Selbstvorwürfe und krank machende Anpassungen.

Aber, die gute Nachricht: Wir können gesund werden. Wir können uns heilen, wenn wir bereit sind, unseren eigenen Wert zu bejahen. Alles, was früher war, loszulassen und abzugeben an die Vergangenheit. Uns von den alten Kommentaren und kranken Systemen zu lösen. Und, ganz wichtig, die früheren Seilschaften zu kappen. Und heute damit beginnen, unser eigenes Dasein intensiv und bis zum Anschlag zu leben. 

Es ist, verdammt nochmal, ein Leben, das uns selbst gehört. Nicht der Mutter, nicht den Ahnen, nicht den Religionen oder anderen Moralaposteln. Erlauben wir uns doch endlich, frei zu sein und frei zu leben.

Hören wir also mit unseren inneren Gerichtsverhandlungen auf. Wir leben nicht, um uns selbst zu optimieren. Wir leben, weil wir aus der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst in diese Welt hinein geboren sind. Wir sind hier, um uns selbst zu erkennen und uns anzunehmen, wie wir sind. Nicht, um uns auszuhalten, sondern um zu lernen, unsere Schwächen genauso zu lieben wie unsere Stärken. Wir sind kein Motor, der immer gut geölt sein muss.

Die Leistung hier bewerte ich nicht. Zumindest nicht offiziell. Mir geht diese Bewertungshysterie auf den Keks. Alles soll bewertet werden. Mal mit Punkten, mal mit Sternen. Ja, bin ich denn der Erfüllungsgehilfe der Optimierungsindustrie?! Ich liebe es, nein zu sagen. „Nein“ ist eines meiner Lieblingsworte. Diese Aussage schockiert so manche Patienten, die sich lieber anpassen und nicht anecken möchten. Dabei ist ein klares „Nein“ ja keine reine Opposition, sondern das Zeichen: Ich bin es mir wert, ganz bei mir zu bleiben. Also: „Nein“aus Liebe zu mir selbst. 

Eine Stunde später: Ich lenke das Auto vom Werkstatthof. Reihe mich in den Fließverkehr ein. Auf den neu montierten Sommerreifen. Es geht nach vorn. Der Frühling kann kommen. Mit aller guten Laune dieser Welt … 

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp