a distorted photo of a woman

Wie ich mir Menschen sympathisch sehe

Bei uns in Krefeld gibt es einen Spruch. In jeder Stadt gibt es irgendwelche Sprüche. Aber der hier ist überaus bezeichnend, weil er stimmt. Die Menschen bei uns sagen: „Es gibt Gute, Böse und Krefelder.“ Und schmunzeln dabei.

Also: Wir in unserer Gegend sind eine ganz besondere Sorte. Eine eigene Art Mensch. Zwischen den Extremen? Oder außerhalb des Erwartbaren? – Na, egal … wie so Vieles lässt sich dieser Spruch von verschiedenen Seiten betrachten.

Auf den Blickwinkel kommt es also an. Auf das Wahrnehmen von Alternativen. Die Offenheit für mehrere Möglichkeiten. 

Als ich anfing, psychotherapeutisch zu arbeiten – das war 1975 –, habe ich mich gefragt: Was machst du, wenn eine Patientin, ein Patient zum Erstgespräch kommt – und du spürst sofort an der Praxistüre: Oh nein, wir passen nicht zusammen!? 

Was jetzt? Mitten in der ersten Stunde sagen: „Ich kann leider nichts für Sie tun!?“ oder: „Ich spüre, dass wir nicht für eine Therapeuten-Patienten-Beziehung geschaffen sind!?“ – Es geht auch anders. 

Einmal saß eine 57-jährige Patientin mir gegenüber. Ich beobachtete, wie sie sich körperlich abwandte und ihre Arme verschränkte. Ihre Augen blitzten mich – leicht zusammengekniffen – an. Sie war Alkoholikerin. Seit längerer Zeit ließ ihr Mann sie links liegen. Schon ihr schlaffer Händedruck schien Ausdruck ihrer inneren Haltung zu sein. 

Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet tat sie mir leid. Oder anders beschrieben: Ich fühlte mit ihr. Aber der Zugang war schwer, weil sie sich keinen Millimeter öffnete. 

Also versuchte ich es anders herum. Nicht nur Psychologen gehen davon aus, dass die Augen ein Fenster zur Seele sind. So sagte ich ihr nach einer halben Stunde, dass ich etwas Zeit und Stille brauche, um sie besser verstehen zu können. Ihre Seele kennenzulernen. – Überraschenderweise war sie einverstanden. Und so schwiegen wir eine Zeit lang, ohne uns anzuschauen.

Ich stellte mir die Patientin als 7-jähriges Mädchen vor. Wie fühlte sie sich damals, im Grundschulalter? Was geschah auf dem Schulhof? War sie mitten in der Kinderschar, also Teil des Ganzen? Oder wurde sie von der Gruppe abgelehnt und an den Rand gedrängt? Stand sie möglicherweise außerhalb der Klassengemeinschaft, wo sich niemand um sie kümmerte? Lehnte sie sich an die Schulhofmauer in der Hoffnung, dass die Pause bald vorbei sein möge?

Ich sah sie vor mir … Bilder tauchten auf … wie in einem inneren Kino. Was ich mit geschlossenen Augen „sah“: Sie stand tatsächlich außerhalb des Kinderkreises. 

Ich sprach das aus, was ich fühlte. Dass sie ausgeschlossen wurde. Traurig und sehnsuchtsvoll am Ende des Pausenhofs auf die anderen Jungen und Mädchen schaute … und sich zu isolieren begann. 

Sie lernte sich in ihrem Leben einzuigeln, um nicht noch stärker verletzt zu werden. „Ja“, die Patientin nickte, „ich wollte nicht mehr spüren, was mir fehlt.“ 

Das 7-jährige Mädchen, das ich vor mir sah, fühlte sich – zum ersten Mal? – wirklich beachtet und verstanden. Ihre Seele fand Vertrauen. Langsam, doch Schritt für Schritt. 

So lernte ich: Wenn du zu einem Menschen keinen Zugang findest – suche dir einen sympathischen „Anker“ heraus. Seine Hände, seine Gesten, seinen Atem, seine Stimme …

Bei mir sind es die Augen, die mich berühren. Und mich tiefer blicken lassen.

Das braucht Geduld. Offenheit. Und eine grundsätzliche Liebe zu Dir selbst und zu Deinen Mitmenschen. Ganz gleich, wie sie Dir begegnen.

Claudia sagte beim letzten Jahreswechsel: „Wir brauchen den Kontakt und die Begegnung. Denn es gibt nichts Interessanteres als Menschen.“ So ist es. Erst recht, wenn wir durch die Augen hinter die Mauer schauen. Ins Herz des kleinen Kindes.

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp