„Und dann meine Seele, sei weit, sei weit …
… dass dir das Leben gelinge!“ Warmherzig, denke ich. Der Ruf nach der Weite stammt von Rainer Maria Rilke.
Heute Morgen bin ich im Stadtwald meinen Füßen gefolgt. Habe mir einen Tag freigenommen von der Praxis und anderen Verpflichtungen. Eine kleine Insel wollte ich mir schaffen. Einen Tag ohne Handy, aber mit Vogelgezwitscher und einer leichten Brise über dem Teich. Dort, wo man den Menschen noch grüßt, der entgegenkommt. Wo Zeit relativ ist. Der Minutenzeiger keine Rolle spielt. Wo das Leben noch gelingen kann.
Ein rotes Tretboot durchkreuzt langsam das Halbrund des Wassers. Zieht einsam seine Bahn. Ein Farbklecks vor grüner Kulisse. Eine schöne Parklandschaft liegt hier vor unserer Türe.
Wer Arbeit hat, ist noch nicht hier, am frühen Mittag. Umso mehr genieße ich den Luxus der selbstgewählten Freiheit.
Heute ist Kaiserwetter an der Galopprennbahn. Ich weiß gar nicht, woher der Begriff stammt. Jedenfalls strahlt die Sonne vom wolkenlosen Himmel.
Die Bank am See ist besetzt. Da treffen sich gerade Hundeliebhaber. Hier saß ich zum letzten Mal vor ewig langer Zeit. Das war 1967. Ich saß jeden Arbeitstag, an dem es nicht regnete, genau sechzehn Minuten an dieser Stelle. Mit einer riesengroßen Sehnsucht im Herzen.
Was mir gerade so klischeehaft vorkommt, war meine Überlebensstrategie als Auszubildender auf dem Finanzamt in Krefeld. Hier saß ich und dehnte die Zeit. Und das kam so:
Unsere Mittagspause war akribisch festgelegt. Vom Glockenschlag 13 Uhr bis zum Glockenschlag 13.30 Uhr. Es zog mich in dieser halben Stunde nicht in die Mensa, sondern in den Stadtwald zur Galopprennbahn.
Ich durfte die Minuten nicht überziehen, denn jeden Mittag pünktlich um 13.30 Uhr lugte unser Vorsteher aus dem Fenster seines Büros im dritten Stock, um diejenigen in flagranti zu erwischen, die zu spät aus der Mittagspause kamen. Im Grunde verlangte er immer wie folgt angesprochen zu werden: „Guten Tag, Herr Leitender Oberregierungsdirektor Dr. Dingeskirchen!“ Dingeskirchen hieß er natürlich nicht. Aber den wahren Namen möchte ich hier doch verschweigen. Dr. Dingeskirchen war erst zwei Jahre vor seiner Pensionierung vom Oberregierungsdirektor zum Leitenden Oberregierungsdirektor befördert worden. Deshalb wollte er wohl auch immer so genannt werden. Es blieb ja nicht mehr viel Zeit für ihn. Da warst du mit dem Paternoster, diesem nach vorne offenen Personenaufzug, schon auf der nächsten Etage, bevor du die komplette Begrüßungsformel ausgesprochen hattest.
Also, normalerweise war ich immer der Letzte, der aus der knappen Mittagspause zurückkehrte. Auf Glockenschlag sozusagen. Dr. Dingeskirchen schloss das Fenster. Ich war ja noch knapp pünktlich.
Die Zeit hatte ich genau berechnet. Heute würde man sagen: Das Timing hat gestimmt. Abzüglich Autostrecke und Weg blieben sechzehn Minuten Unabhängigkeit. Da saß ich nun mit meinen neunzehn Jahren auf dieser Bank und reihte einen Augenblick an den anderen.
Ich stellte mir vor, es gäbe diese irdische Zeit nicht, ich säße den ganzen Tag hier am See. In dieser Parklandschaft. Jede Minute sei ewig. Ein kostbarer Schatz. Manchmal lag ein leichtes Flirren in der Luft. So träumte ich mich langsam in diese Landschaft hinein.
Ein verstohlener Blick auf die Uhr: Noch neun Minuten Zeit und Raum zum Atmen.
Nichts und niemand störte in dieser Mittagspause. Das hier war meine Parallelwelt. Mein Freiheitsraum. Auch mein Geheimnis. Ständige Gegenwart. Augenblick um Augenblick.
Ein kurzes Schauen: Noch drei Minuten.
Die Natur tief einatmen. Auskosten. Und in den letzten Sekunden den Brustkorb weiten und füllen mit allem, was nicht an Schreibtisch erinnert. – So, danke, danke, danke! Aufbruch – und zurück. Diese sechzehn Minuten hatten den Geschmack von vielen Stunden, prall gefüllt mit Leben.
Wer die Zeit dehnt, übersteht auch den Nachmittag. Und Dr. Dingeskirchen.
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp