Manchmal wird es eng im Leben
Mensch, ist das eng hier. Ich stecke fest. Gut, ich habe Schutzbleche um mich herum. Wenn ich anecke, schramme ich mir die Kotflügel und beide Außenspiegel.
Die italienische Mama hinter der Fensterscheibe grinst still in sich hinein. Ja ja, die deutschen Touristen …
Was war passiert? – Claudia und ich lieben italienische Bergdörfer. Der Kirchplatz liegt ja in aller Regel an der höchsten Stelle des Ortes. Dort wollten wir hin. Das Sträßchen links den Hügel hinauf musste dorthin führen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Dachte ich mir. Manchmal laufen die Gehirnwindungen aber konträr zu den kurvenreichen Straßen und Gassen. Das sollten wir gleich erfahren.
Ich war wahrscheinlich auch zu beseelt von der Idee, in dem Kirchlein dort oben eine kühle Verschnaufpause zu genießen und eine nachmittägliche Meditation einzulegen.
Von Sackgasse war nichts zu lesen. Tomaten hatte ich auch keine auf den Augen, war aber wieder mal zu ungestüm. Mich reizen ja diese kleinen Gassen, in denen man das Ende nicht erkennen kann. Ich wollte schon als junger Mensch immer wissen, wie es weitergeht.
Da fällt mir gerade ein: Früher, mit 20 Jahren, habe ich ständig ausprobiert, ob ich mit dem letzten Tropfen Benzin noch bis zur Tankstelle komme oder liegen bleibe. Liegen geblieben bin ich mehr als 25 Mal. Ganz schön bescheuert. So musste ich bis zur Tanke laufen. Und mir – gegen Pfand – einen gefüllten Kanister ausleihen. Innerstädtisch kein Problem. Doch mitten in der Nacht außerhalb von Düsseldorf liegen zu bleiben, bis nach Neuss zu laufen und dort eine rund um die Uhr geöffnete Tankstelle zu finden, war schon abgedreht. Aber ich liebte es total, bis an die Kante zu gehen, um neue Erfahrungen zu machen.
Hier in den italienischen Bergen war nicht viel Platz. Auch eine neue Erfahrung! Die Gasse wurde immer schmaler. ‘Das kann doch nicht der Weg zur Kirche sein?‘, schoss es mir durch den Kopf. Mittlerweile waren es auf beiden Seiten gerade noch zehn Zentimeter bis zu den Hauswänden. Rechts und links, und kein Wenden möglich. Als es ganz schmal wurde, standen wir vor einer dreißigstufigen Treppe. Ja, da fällt dir erst mal nichts mehr ein. Und die italienische Mama öffnete das Fenster und legte sich genüsslich in die Auslage. Schweigend, lächelnd, amüsiert.
Das war jetzt Adrenalin pur. Es gab ja damals noch keine Warnpiepser, erst recht keine Rückfahrkameras. Da hatte ich uns aber schön in die Sackgasse hinein manövriert. Die Hauswände kannst Du ja nicht verschieben.’Wahrscheinlich‘, schoss es quer durch mein Gehirn, ’fahren hier nie Autos rein. Du bist der erste Vollidiot, der das zustande bringt.‘
Rückwärtsgang einlegen, den Körper hinter dem Steuer hoch hieven … Hals verdrehen – und rückwärts durch die Scheibe gucken. Die italienische Mama nicht beachten … uuuund dann gaaaanz langsam … zurück. Beide Seitenspiegel einklappen. Das Gaspedal nur millimeterweise bedienen. Also unterstes Schneckentempo. Zwei Meter geschafft. Die italienische Mama beugt sich zum Fenster hinaus und schaut jetzt belustigt von vorne zu.
„Warum musst Du immer ausprobieren, wo eine Straße endet?“ wirft Claudia ein. Sie ist ganz nervös. Das beruhigt mich wieder. Es reicht ja, wenn einer von uns nervös ist.
Noch keine Schramme geholt. Ich denke, das klappt nur, wenn man keine Angst hat, im Leben auch mal anzuecken.
Als die Gasse breiter wurde, strömte ein tiefer Seufzer aus mir heraus. Mein Blick fiel zur Treppe. Die italienische Mama hatte die Fensterläden wieder geschlossen. Puuuh, die zwanzig Meter zurück waren Millimeterarbeit.
Zur Kirche sind wir nicht mehr hochgestiegen. Wir mussten – in doppelter Hinsicht – erst einmal herunterkommen.
Und ich frage mich beim Schreiben: Welche positive Erkenntnis lässt sich von dieser Geschichte ableiten? – Wenn Du Dich in Sackgassen Deines Lebens hineinmanövrierst, kannst Du trotzdem wieder hinausgelangen. Vielleicht mit dem einen oder anderen Kratzer. Das ist okay, denn den Fehler machst Du ja kein zweites Mal. Also keine Angst vor engen Situationen im Leben. Keine Angst vor Schrammen. Das Leben weitet sich auch wieder.
Und wenn wir demnächst an einem schönen Sommertag ein italienisches Bergdorf besuchen, werde ich erst einmal einige Meter zu Fuß in das Dorfsträßchen hineingehen, um es nach Sackgassen, Verengungen, Steinstufen und anderen Unwägbarkeiten zu untersuchen.
Experimente sind toll. Aber manchmal erleichtert Vor-Sicht auch das Leben.
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp