Der Zwerg am 10. Loch

Der Zwerg kam aus dem Wald gerannt. Am 10. Loch. Blitzschnell. So schnell Richtung Abschlag, dass Frank (Name geändert) während des Schwungs keine Chance mehr hatte. Der Zwerg sprang an den Schläger, verdrehte die Schlagfläche – und die Kugel flog rechts weg in die Bäume. „Socket“ nennen Eingeweihte diesen Fehlschlag.

Zum Verzweifeln. Immer am 10. Loch verlor Frank den Anschluss. „Unglaublich“, sprach er kopfschüttelnd und wiederholte: „Unglaublich!“

Es dauerte lange, bis er mir davon erzählte. Irgendwie schämte er sich wohl dafür. „Sag mal, Doc … habe ich nicht alle auf dem Christbaum? Oder was ist los?“ Und er fuhr fort: „Ich kann da gar nichts machen. Natürlich weiß ich, dass es diesen Zwerg nicht gibt. Aber er ist trotzdem da. Wie eine Marotte, eine fixe Idee.“

Bei der nächsten Mannschaftssitzung nahm er allen Mut zusammen. Den Golfkameraden war ja schon lange aufgefallen, dass er immer am 10. Loch patzte.

„Wahrscheinlich haltet Ihr mich für verrückt“, begann er. „Da ist so ein Zwerg. Der lebt da rechts im Wäldchen.“ – „Hä?!“ Und: „Hammer!“ waren die ersten ungläubigen Kommentare.

„Nein, ehrlich. Ich weiß nicht nur, wo der lebt. Ich weiß auch, welche Klamotten der trägt.“ – Schweigen im Wald und im Clubraum.

Are you on drugs?“, fragte der amerikanische Austauschstudent besorgt. Alle lachten. Nein, das war es nicht.

Ja, und dann erzählte Frank seine unglaubliche Geschichte vom Zwerg, der an den Schläger springt und die Schlagfläche verdreht. Immer auf der 10. Bahn. Ein fieser Zwerg sei das. So runzelig und garstig.

„Und wenn Du ihn zu Deinem Caddie ernennst und ihn einlädst, mit Dir über die ganze Runde zu gehen und Dir zu helfen?“ kam mir als Idee. „Wenn er den Job annimmt, sabotiert er Dich nicht mehr.“

Ich wusste ja, Zwänge sind löschungsresistent. Aber „umdeuten“, das geht. Da fiel mir doch sofort Milton H. Erickson ein, der große Meister der modernen Hypnotherapie, der immer vom „Utilisieren“ sprach. Also alles für die Lösung, für den Therapieerfolg zu nutzen, was der Patient so anbietet. Dann nutzen wir den Zwerg eben für die Lösung des Problems.

Frank war nicht abgeneigt, dem Zwerg eine neue Aufgabe anzubieten, ihn zu seinem Golfbegleiter zu ernennen. „Ein tolles Spieler-Caddie-Team“, meinte ich noch.

Der rotbemützte Zwerg hat jetzt sogar einen Namen. Den habe ich aber vergessen. Nennen wir ihn der Einfachheit halber „Peter“.

Was soll ich sagen: Wie stolz Peter jetzt auf einmal ist, und wie er sich über die Anerkennung freut! Aufrecht, fast militärisch, schreitet er links vom Meister, wie Frank es ausdrückt.

Bis heute hat er seinem Team nichts davon erzählt. Aber alle wundern und freuen sich, dass er auf der zehnten Bahn die Kugel wieder trifft. Gut für die Mannschaft.

Und heißt es nicht immer: Wer heilt, hat recht?! – Oftmals heilt die Verschreibung des Symptoms. Oder die Nutzbarmachung des beklagten Tatbestands. Egal. Niemand hat jemals herausgefunden, wieso sich der Zwerg in Franks Leben gedrängt hat. Aber jetzt hat er immer einen imaginären Helfer an seiner Seite. Einen externen Freund und Ratgeber, der ihm spiegelt, was Sache ist.

Umdeuten lohnt sich. So sind alle Beteiligten zufrieden. Und ziemlich erleichtert. Peter sei Dank.

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp