Löwenzahn durch den Asphalt

Im Radio hörte ich vor einiger Zeit, dass es Pflanzen gibt, die nicht viel zum Leben brauchen, also sehr genügsam sind. Löwenzahn und Huflattich gehören dazu. Sie wurzeln sogar in Beton und Asphalt. Das erinnerte mich an folgende Erfahrung:

Ich lernte schon vor Jahrzehnten einen ökologisch interessierten Transportunternehmer kennen. Sein Wagenpark lag vor den Toren einer Stadt im süddeutschen Raum. Auf einem Gelände, das nur über naturbelassene Wege erreichbar war.

Nun kam die Verwaltung auf die Idee, den Hauptweg teeren zu lassen. Was sagte der Unternehmer: „Das ist für meine Fahrzeuge auf jeden Fall besser. Aber ich konnte meine klammheimliche Freude nicht verhehlen, als ich sah, wie sich kurze Zeit später Löwenzahn durch den Asphalt schob.“

„Toll“, dachte ich, „ein starkes Bild: Löwenzahn durch den Asphalt!“ Welche Kraft, welche Energie muss dahinter stecken, wenn Pflanzen sich nicht nur von sanften Hügeln und Wiesen nähren lassen, sondern leben wollen um jeden Preis! Und sei es auf den unwirtlichsten Untergründen, egal ob Kiesbett, Straßenrand oder Teer. Der Löwenzahn kann uns so vieles lehren … Das zeigt auch folgende Geschichte:

Brigitte (Name geändert), eine 55jährige Grundschullehrerin, die lange Zeit an Krebs erkrankt war, wollte ihre innere Stimme hören. Ihre Frage war nämlich: „Wenn ich wieder gesund bin, möchten dann mein Herz und meine Seele wieder zurück in den Unterricht – oder ist es besser für mich, frühzeitig in Pension zu gehen, um mein Leben noch genießen zu können?“

Wir vereinbarten einen Spaziergang, der sie hinaus in die Natur führte. Als sie zurückkam, berichtete sie: „Bis zum Wald bin ich gar nicht gekommen. Mein Blick fiel schon bald auf einen Löwenzahn am Straßenrand. Wie er da durch den Asphalt gebrochen war… Ich war wie gefesselt. Ich konnte gar nicht weitergehen. Ich stand auf dem Bürgersteig und schaute eine halbe Stunde fasziniert hinunter in die Straßenrinne. Diese Pflanze … welche Kraft muss in ihr stecken! Und was für ein Durchhaltevermögen! Nicht satt und genährt, nein, mit dem Wenigen zufrieden. Ein Wunder!“

„Und welchen Schluss ziehen Sie für sich daraus?“, fragte ich sie.

Ganz ruhig saß sie da, lächelte und schwieg. Dann sprach sie leise: „Ich konnte meine Augen nicht abwenden. Für mein Herz ist die Botschaft klar: Halte durch! Bleib Lehrerin. Es ist Deine Bestimmung. Geh zurück zu Deinen Kindern. Sie brauchen Dich noch.“

Erst zehn Jahre später ging sie altersentsprechend in Pension. Sie hat nicht nur durchgehalten. Sie war mit ihrem ganzen Herzen dabei.

Löwenzahn durch den Asphalt – ein starkes Bild. Genügsam, kraftvoll und mutig – und doch voller Demut. Welch eine Hilfe in diesen Zeiten!

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp