Mit der Strömung, gegen die Strömung?

Mit der Strömung zu schwimmen ist (relativ) einfach. Im Mainstream zu baden heißt: Von Vielen akzeptiert zu werden, dabei zu sein, mitsprechen zu können…

Kurz und gut: eingebettet zu sein in das, was die Gesellschaft, der Freundeskreis, die Familie, aber auch die Religion, das gültige Wertesystem, die moralischen Normen erwarten.

Windungen und Kehren wünscht man sich nicht im Lebensfluss. Sie sind nicht vorgesehen, eher „Unfälle“, werden oft schamhaft verschwiegen. „Helden“ sind die, die scheinbar mühelos innerhalb des vorgegebenen Flussbettes durchstarten. Krisen – wie Depressionen, Ausgebranntsein, Schwäche zeigen – bedeuten höchstens Ausrutscher, die es schnell zu überwinden gilt.

Ganz anders Udo Lindenberg in seinem Lied „Gegen die Strömung“:

„Und die Leute motzen:

Da kommen die zwei Geflippten,

die durch nichts zu bremsen sind –

und die schwimmen gegen die Strömung

und rennen gegen den Wind.“

Mit der Strömung zu schwimmen ist auf den ersten Blick leichter. So vermeidet man Kritik, fällt weniger auf, eckt weniger an – und findet das gut. Doch nach und nach beschleicht viele Menschen das Gefühl: „Das kann doch nicht alles gewesen
sein.“ – „Das ist doch alles zu normal.“ – „Das Leben bietet doch mehr!“ Ganz
typisch in der Lebensmitte.

Wieder andere nehmen klaglos alles in Kauf, leiden still vor sich hin. Wolf Büntig, Arzt und Psychoanalytiker, spricht von der „Normopathie“, dem Leiden am normalen (durchschnittlichen) Leben. Normopathie gilt nicht als Krankheit im
eigentlichen Sinne, führt aber zu Folgen, die wir Krankheit nennen.

Was ist die logische (gesunde) Konsequenz?

Man muss schon mal vom Weg abkommen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Das Leben ist kein planbarer, gerader Kanal. Umwege sind oft Meilensteine auf dem Weg der Erfahrung und Erkenntnis.

Sind die Erfahrungen, die Du auf einem begradigten Flusslauf machen kannst, genauso vielfältig wie die Erfahrungen in den Windungen und Kehren eines natürlichen Flusses? – Der begradigte Fluss schwemmt Dich ohne Anecken, ohne Verwundungen, ohne Verweilen, ohne Innehalten an ein Ziel.

Bist Du dadurch reifer geworden? Bist Du dadurch reicher geworden – an Erfahrung, an Erkenntnis und Weisheit?

Wie geht es Dir am Ziel, wenn Du nicht eins bist mit allem, was Dich ausmacht, was Du bist?

Lebe Deine Eigenartigkeit, sei eigensinnig. Unvergleichlich und unverwechselbar.

Freue Dich über alles, was Dich aus dem „Mainstream“ wenigstens ab und zu, herausführt. Freue Dich über die Biegungen, die Kurven, die Tiefen und Strömungen Deines Lebensflusses und nimm sie dankbar an. Du kannst sicher
sein: Umwege sind keine Irrwege. Was Du als Umweg betrachtest, ist notwendige
Voraussetzung für Wachstum und Reife des ganzen Menschen.

Sei dankbar für den Wandel, für jeden Tag und jede Nacht.

Die Worte „eigenartig“ und „eigensinnig“ schreibe ich in aller Regel wie folgt:

eigenARTig und eigenSINNig. Was nichts anderes bedeutet als:

Lebe Deine eigene Art, Deine LebensKUNST. Deine eigenen
Sinne, die Deinen LebensSINN befördern.

Schaffe Dir ein neues Leitbild für Dein Leben.

Was spricht dafür, mit der Strömung zu schwimmen?

Was spricht dafür, gegen die Strömung zu leben?

Auch hier gibt es, wie immer im Leben, keine hundert Prozent auf der einen, und null Prozent auf der anderen Seite. Es geht nicht um Anecken um jeden Preis. Erst recht nicht um Brüskieren. Aber lebe Deine Ecken und Kanten, und zeige Dich der Welt in Deiner Unvergleichlichkeit. Lebe Deine eigene Art, Deinen eigenen Sinn. Dann lebst Du Dein Leben. Und vollendest es, wenn der Strom im weiten Ozean mündet, als Original und nicht als Kopie.

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp