In einer Kolumne der Rheinischen Post vom 29. November 2012 schreibt die Journalistin und Theaterwissenschaftlerin Dr. Dorothee Krings:
„Selbstverliebt füttern wir unsere Facebook-Seiten mit Fotos von uns selbst und zählen unsere Freunde. Das ist die Selbstvergewisserung einer Gesellschaft, die sich als ohnmächtig empfindet.“
Ich veröffentliche diese Kolumne, weil sie mir aus dem Herzen spricht.
„Schon erschreckend, wie ähnlich uns unsere Kinder geworden sind. Eltern kleiden ihre Kleinen heute ja am liebsten wie sich selbst: Ballerinas, Markenjeans, Mini-Edelparka – auch das Kind ist längst Ausdruck des eigenen Geschmacks. Und so treffen sich im Sandkasten lauter geschrumpfte Erwachsene zum Outdoor-Socialising, und die Großen stehen am Rande und schauen sich selbst beim Spielen zu.
Natürlich ist das ein harmloses Symptom jenes Narzissmus, der unsere Zeit ergriffen hat. Weniger harmlos ist die Selbstverliebtheit ganzer gesellschaftlicher Gruppen, die von der Not der anderen nichts mehr wissen wollen. Zum Glück sorgen ja die Immobilienpreise dafür, dass man in seinem Viertel inzwischen unter sich bleibt. Wer den anderen nicht mehr wahrnimmt, bekommt keine Skrupel, wenn er nur die eigenen Interessen verfolgt. Und so fordern in der Politik Spitzenverdiener mehr Entlastung, Hartz-IV-Empfänger mehr Stütze, Pendler mehr Pauschale, Rentner mehr Rente. Gruppismus grassiert.
Auch unter Staaten. Griechenland liegt ja auch nur noch in Europa, weil die anderen Länder fürchten, dass der Rauswurf zu teuer wird. Wer von Solidarität spricht, steht unter Naivitätsverdacht. Wenn Philosophen wie der Kameruner Achille Mbembe Europa vorwirft, es drehe sich narzisstisch nur noch um sich selbst, weil es den eigenen historischen Abstieg nicht verwinden könne, hat er womöglich recht.
Denn dem Narzissmus voran geht immer die Kränkung. Das erzählt schon der Mythos: Aus trotzigem Stolz weist der schöne Flussgöttersohn Narziss alle Verehrer zurück und wird darum mit grenzenloser Selbstliebe bestraft.
Das ungeheure Bedürfnis nach Selbstbestätigung in unserer Gesellschaft hat damit zu tun, dass die Menschen an Selbstentfremdung laborieren. Bei der Arbeit erleben sie, wie andere über Abläufe, Leistungsziele, Karrierechancen bestimmen. Sie selbst werden nicht gehört. In der Politik sehen sie zu, wie die Volksvertreter von der wirtschaftlichen Entwicklung getrieben werden. Im Zentrum des Kapitalismus steht das Erwirtschaften von Profiten, nicht das Wohl des Einzelnen. Das ist die fundamentale Kränkung unserer Zeit.
Kein Wunder, dass wir uns Facebook-Seiten zulegen, unsere Urlaubsbilder hochladen und zu Protokoll geben, dass wir mal eben Kaffee holen sind. Das ist Selbstvergewisserung in Zeiten globaler Ohnmacht. Der Narzisst von heute spiegelt sich im Internet, zählt seine Freunde, möchte „geliked“ werden.
Von Sigmund Freud wissen wir, dass Narzissmus durch Erziehung zur Realität zu überwinden ist. Der Mensch muss lernen, seine Ohnmacht und Hilflosigkeit zu akzeptieren. Diesen Prozess nennt man übrigens Erwachsenwerden.“
Soweit Dr. Dorothee Krings in ihrer Kolumne, erschienen in der Rheinischen Post am 29. November 2012.
Im „Sternum-Projekt“ (S. 100) lasse ich zum Thema „Narzissmus“ Hildegard Knef zu Wort kommen, die besang:
„Für mich soll’s rote Rosen regnen,
mir sollten sämtliche Wunder begegnen.
Die Welt sollte sich umgestalten
und ihre Sorgen für sich behalten.“
Von daher beschreibe ich den Narzissmus auch als das „Rote-Rosen-Syndrom“.
Es gibt – und gab schon immer – eine ganze Zahl von Menschen, die glauben, das Leben müsse ihnen Tag für Tag etwas Besonderes bieten, sie seien die Auserwählten. Das „Rote-Rosen-Syndrom“ ist keine wissenschaftliche Bezeichnung. Die medizinische Beschreibung lautet: narzisstische Persönlichkeitsstörung, und sie hat Krankheitswert.
Diese ungesunde Haltung hat mit einem Auswuchs der Liebe zu tun, nämlich mit der sich selbst überhöhenden, ich-bezogenen, narzisstischen Eigenliebe. Narzissten stehen im Spiegelsaal und sehen von allen Seiten nur sich selbst. Der Weg zur wirklichen Selbstliebe setzt jedoch den Abschied vom Narzissmus voraus.
Der Kölner Objektkünstler Victor Bonato gestaltete ein Kunstwerk, auf dessen Marmorsockel ein großer, hoher Spiegel angebracht war. Nur wurde der Spiegel „falsch herum“ aufgehangen: Die Spiegelseite zur Rückwand, die blinde Rückseite nach vorne, zum Betrachter hin. Dieser Spiegel lässt im wahrsten Sinne des Wortes kein Spiegelbild zu. Nichts und niemand kann sich in ihm spiegeln. Bonato nennt das Werk: „Abschied des Narziss“.
Für mich soll’s rote Rosen regnen? Die Weisheit liegt in der Beschränkung. Vielleicht sollten Narzissten sich auch einmal die Kehrseite der Medaille zu Herzen nehmen, nämlich:
„LIEBE DEINEN NÄCHSTEN… wie Dich selbst.“
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp