Beim Entrümpeln fand ich vor kurzem die Notizen einer Ansprache, die ich am 14. Oktober 1994, also vor annähernd 20 Jahren, gehalten habe. Anlass war die Eröffnung einer Hotelerweiterung im ländlichen Westfalen. Das Eigentümer-Ehepaar hatte sich schon damals die Förderung von Lebensbalance und innerer Zentrierung auf die Fahne geschrieben. Als Ideengeber war ich beauftragt, den Schwimmbad-, Sauna- und Meditationsbereich mitzugestalten.
Auch heute, 20 Jahre später, passen die Gedanken hier hin. In Ausschnitten sagte ich Folgendes:
„Wer in die Fußstapfen eines Anderen tritt, kann ihn nie überholen.“
Man muss eben manchmal vom Weg abkommen, um nicht auf der Strecke zu bleiben.
Sie, liebe Familie S., sind eigene Wege gegangen. Für heute und für die Zukunft wünsche ich Ihnen
Glück, innere Zufriedenheit und Gottes Segen für Ihr Haus und Ihre Gäste.
Eine chinesische Geschichte lautet:
Ein in der Meditation geübter Mann wurde gefragt, warum er immer so gesammelt sei. Daraufhin sagte er ihnen:
„Wenn ich sitze, sitze ich. Wenn ich stehe, stehe ich. Wenn ich laufe, laufe ich.“
Da sagten sie zu ihm: „Das tun wir auch!“
Er entgegnete aber:
„Wenn Ihr sitzt, dann steht Ihr schon. Wenn Ihr steht, dann lauft Ihr schon. Und wenn Ihr lauft, dann seid Ihr schon am Ziel!“
Entspannung und Konzentration sind nur möglich, wenn wir uns ganz auf das Hier und Jetzt besinnen können. Und das in einer Welt, die immer komplexer wird und in der sich bestehende Werte auflösen.
In der sich das Tempo und der Wandel beschleunigen und das Neue immer schneller neu wird.
Je mehr Reizüberflutung, je mehr Turbulenzen, umso leichter gerät der Mensch in Gefahr, sich unkonzentriert zu verzetteln. Wer sich verzettelt, bleibt allenfalls durchschnittlich und entwickelt nicht sein ganzes Potenzial.
Warum ist heute die Fähigkeit zur Entspannung und Konzentration so wichtig?
Warum sprechen wir immer stärker von der Ganzheitlichkeit, der Einheit von Körper, Geist und Seele?
Warum gewinnt die Wiederentdeckung der Sinne so sehr an Bedeutung?
Begleiten Sie mich bitte auf einer kurzen Wanderung durch die letzten Jahrzehnte.
Trendforscher bezeichnen die Fünfzigerjahre auch als die “naive Phase”.
Nach dem 2. Weltkrieg suchten viele die „heile Welt“ – und fanden sie in der Försterliesel, in der Sissi oder in der Fischerin vom Bodensee. Andere lebten sich aus im Boogie Woogie oder Rock’n’Roll.
Mit der Verdrängung der Kriegswirren begann der Aufbruch in die Wohlstandsgesellschaft.
Die Sechzigerjahre waren eine „Ära der Entwurzelung“.
So kam es zum Wertewandel ab 1965. Träger dieser Bewegung waren die Studentenrevolte („Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“), die Hippies, die Außerparlamentarische Opposition (APO) sowie Anfänge der Bürgerbewegung. Noch heute spricht man von den „Achtundsechzigern“.
Während die Sechzigerjahre zerstörten, fingen die Siebzigerjahre an zu träumen. Es begann die „Ära der Ideation“, der Leichtigkeit von Idealen. Angefangen von der Öko-Bewegung, der Ethik-Bewegung und New Age, setzte man auf neue Ideale. Die Sprache wurde unverbindlicher: „Ich sag mal so…“ oder „Mal so gesehen…“.
Die Achtzigerjahre wurden zur „Ära der Oberfläche“. Profan, vergänglich – die Entdeckung der Gleichgültigkeit.
Es wuchs die Gameboy-Generation heran. Kinder und Jugendliche wurden tiefen Gefühlen gegenüber unempfindlicher. Die Gesellschaft rutschte in eine Zeit der Oberflächlichkeit und des Scheins. Das Credo von Kim Basinger lautete: „Komm auf die Welt, schaukel Dein Ding, sei glücklich – und verschwinde. Das ist Dein Auftrag!“ Tiefgang im Denken und Fühlen war weniger gefragt als zuvor.
Im Übergang zu den Neunzigerjahren beginnt die „Ära der Simulation“, der Cyber-Technologie. Elektronisch netzwerkorientiert.
Immer mehr Menschen wollen profan leben, aber im Gehirn soll mehr Rauschen stattfinden. Simulierte Erlebnisse versprechen mehr Kopf-Abenteuer. Das Leben verlagert sich an die Kante („at the edge“).
Immer neue Nervenkitzel, neue thrills und neue Albträume auf der Suche nach der Beseitigung von Grenzen. (Ist hinter der Grenze eine Grenze und dahinter eine Grenze oder Grenzenlosigkeit?) Deshalb die Sehnsucht nach Freizeitparks, Disco-Fieber, phantastischen Glitzerwelten, Bungee-Springen, Freeclimbing und neuen Abenteuer-Erfindungen.
Immer mehr Menschen spüren sich nur noch in den Extremen. Sie spüren sich nicht mehr in ihrer Mitte. Sind innerlich hin- und hergerissen, ohne Balance.
Immer weniger Menschen nutzen ihre fünf Sinne, um sinnvoll zu leben. Lebe ich nicht mehr mit meinen Sinnen, bin ich von Sinnen. Ohne Sinne ist der Tag ohne Sinn. Ohne bewusst zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken, zu tasten, zu spüren und zu ahnen.
Mit seinen Sinnen ist der Mensch ausgeglichen, im Gleichgewicht, entspannt und konzentriert. Überlebenswichtig ist für jetzt und die Zukunft also die Wiederentdeckung der Sinne und die Ganzheit. Die Einheit also von Körper, Geist und Seele.
Die Zeit heute (Anmerkung des Verfassers: Ich spreche vom Jahr 1994!) braucht als Gegenströmung zur Wertezerstörung eine neue Werte- und Sinnkultur! Und das geht nur, wenn die Menschen wieder mehr zu ihrer Mitte finden und aus ihrer Mitte heraus lebendig sind. Wenn die Menschen sich wieder selbst entdecken. Ihre eigenen Ressourcen, ihre Energiequellen in ihrer Mitte. Und die Fähigkeit, abzuschalten, zu genießen und sich wohl zu fühlen. Dazu gehört vor allem die Ruhe, die Muße und die Stille.
Das hat schon der Wanderer erkennen müssen, der beim Haus eines weisen Menschen eine Rast einlegte. Von diesem weisen Mann, dieser weisen Frau, eingeladen, begannen sie über die Fragen zu philosophieren: Wer bin ich? Und: Wie finde ich zu mir?
Da sprach der weise Mensch zum Wanderer: „Geh zum Brunnen, beuge Dich über den Rand, werfe einen Stein ins Wasser – und Du wirst Deine Antwort erhalten.“
Der Wanderer tat, wie ihm geheißen, warf den Stein hinein und sah – nichts.
„Ich sehe nichts!“ rief er dem Weisen zu. „Das Wasser ist zu unruhig, ich kann mich nicht erkennen!“
Da sprach der weise Mensch: „Habe Geduld und warte.“
Nach einer Weile beugte sich der Wanderer wieder über den Rand – und das Wasser war ruhig und klar. Erfreut rief er aus: „Ja, jetzt erkenne ich mich!“
Meine Damen und Herren, entdecken Sie heute wieder Ihre Fähigkeit zu staunen – draußen und drinnen.
Erobern Sie sich dieses Haus mit einer großen Portion kindlicher Freude. Sehen Sie, hören, riechen, schmecken und fühlen Sie. Genießen Sie mit allen Ihren Sinnen. Schon André Heller war überzeugt: „Solange es das Staunen gibt, feiert die Banalität keine Triumphe!“
Und von Vicco von Bülow alias Loriot stammt der Satz: „Man hat nur Spaß im Leben, wenn man das Kindliche in sich trägt.“
Wann lassen Sie, oder Sie, oder Sie einen Drachen steigen und verzaubern die Welt mit Seifenblasen?
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp