Immer der gleiche Blick. Ein halbes Leben sitze ich an diesem Fenster. Am Fenster zum Hof. Dort steht mein Schreibtisch.
’Zu viel gestapelt‘, denke ich. – ’Noch nicht bearbeitet!‘ mahnt mein innerer Antreiber. Und sagt: ’Du wolltest den Stapel doch vor den Weihnachtstagen vom Tisch kriegen!‘ – ’Ja, ich weiß …‘, murmelt mein Pflichtbewusstsein. Und sowas von ’Entschuldigung.‘ – ’Es ist doch bald Weihnachten. Haltet Frieden!‘, mischt sich eine dritte Seite ein. Der innere Regisseur. Oder auch der Versöhnungsengel. Ich weiß es nicht.
Es ist Dezember. Im Hof steht die Laterne, die jetzt, in der Dunkelheit, ihr warmes Licht in mein Fenster scheinen lässt. Im kleinen Beet sind die Sträucher noch nicht zurückgeschnitten.
Ich sitze gerne hier. Meine Praxis ist mir vertraut. Auch die beiden Stapel rechts und links von der Schreibfläche.
Und der kleine Garten im Hof bedeutet … Ja, was? … Beständigkeit? Verlässlichkeit? … Oder – einfach ein Stück Heimat für mich?
’Heimat ist ja ein einfacher Begriff – und dennoch sehr komplex‘, denke ich. Es gibt praktisch keine Mehrzahl. Und jeder versteht etwas anderes darunter. Ein 17-jähriger Tamile schrieb kurz vor seinem deutschen Abitur ein Buch mit dem Titel: „Zweiheimisch.“ Dort und hier.
Heimat ist für mich die Basis zum Wohlfühlen. Wo meine Familie ist, meine sozialen Kontakte, wo ich gerne lebe. Wo ich weder Skype noch Internet brauche, um mich zu verabreden. Und wo ich keine Verrenkungen machen muss, um geliebt zu werden.
Jugendliche wurden vor kurzem befragt, was sie unter „Heimat“ verstehen und wo Heimat für sie ist. Einer antwortete: „Heimat ist da, wo es WLAN gibt.“ Ein anderer: „Wo die Steckdosen sind.“ Aber auch: „Zu Hause. Bei meinen Eltern und Geschwistern. Und bei Balou, unserem Familienhund.“
Es gibt noch viele andere Betrachtungsweisen von Heimat. Eine davon stammt von Ottfried Fischer, dem deutschen Schauspieler und Kabarettisten. Sein Heimatbegriff ist ganz einfach und für jeden verständlich. Er sagt: „Heimat ist da, wo ich meinen Bauch nicht einziehen muss.“
Das Fenster zum Hof – und immer der gleiche Blick lässt mich Verbundenheit spüren. Erdung.
Nach jeder Therapiestunde stehe ich hier für einen Moment und lasse den Atem fließen. Menschen durch Krisen zu begleiten ist ein Stück innerer Heimat. Denn Heimat findet auch im Herzen statt, in der Beziehung zum Du. Dies können elektronische Geräte nur eingeschränkt vermitteln. „Die sozialen Kontakte kann man nicht digitalisieren.“ sagte der Moderator Johannes B. Kerner. Ob das allgemein gilt? Ich weiß es nicht. Ich fühle es so.
Wenn ich nach draußen blicke und mit dem Herzen sehe, läuft ein leichter Schauer über meinen Rücken. In die Blumenkästen vor dem Fenster hat meine Schwägerin Gestecke und Glaskugeln gelegt. Ich bin angekommen. Trotz der Stapel auf meinem Schreibtisch.
Wird fortgesetzt
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp