view of a road in winter

Den Aufbruch wagen

Manchmal hat der Winter alle Hände voll zu tun. Manchmal tüncht er die ganze Gegend aber nur grau in grau. Dann ist es eine Jahreszeit, die der Mensch zu seinem Glück nicht unbedingt braucht.

Gut, im November begannen die Weihnachtsmärkte. Im Dezember hielten uns Kerzen und der Duft von Zimt und Spekulatius über Wasser. Und vielleicht die eine oder andere Überraschung im bunten Geschenkkarton. 

Aber der Januar? „Die Zeit zieht sich …“, so fühlen es viele Menschen. Sie dehnt sich scheinbar endlos aus, bis es wieder grünt und blüht.

Also … was machen wir bis dahin? Mein Vorschlag: Wir beschäftigen uns heute mit dem Wort „Aufbruch“. Wir kennen das von Straßenbauarbeiten. Die Stadtwerke haben den Asphalt auf dem Bürgersteig aufbrechen lassen, um neue Gasleitungen zu verlegen. Und am Ortsteingang ist die gefährliche Kreuzung aufgebrochen, um hier ein Rondell zu bauen. Das bremst die Geschwindigkeit schon mal ab.

Was gibt es noch an „Aufbrüchen“? Ja klar, wir können körperlich aufbrechen, uns also auf den Weg machen. Unsere Seele kann aufbrechen, um bisher verpanzerte Erfahrungen freizuspülen. Unser Geist kann aufbrechen, um uns aus mentalen Verkrustungen herauszuführen und uns neue Blickwinkel zu schenken.

„Aufbrechen“ bedeutet ja immer auch: Brechen mit dem, was nicht mehr in unser Leben passt. Was uns ängstigt. Was uns unfrei macht. Auch depressiv werden lässt. 

Ich erinnere mich gerade an eine schwierige Phase in meinem Leben. Gut, schwierige Phasen hatte ich satt und genug. Aber diese begann früh. Schon mit 14. Da hörte ich nämlich auf zu wachsen. Alle neben mir schossen in die Höhe. Doch als ich dachte: ‚Jetzt geht es los!‘, passierte … gar nichts mehr. Schluss, aus, Ende. Meine DNA war auf Kürze programmiert. 

Damit nicht genug. Mir fielen auch die vorderen Kopfhaare aus. Ein unerwünschter Auf-Bruch zur Platte. Gerade in einer Zeit, als ich anfing, mich für Mädchen zu interessieren. Mit diesem Mischmasch konnte ich ganz schlecht umgehen. Was ich auch versuchte – das ständige Überspielen durch Lautstärke und auswendig gelernte Reden von Heinz Erhardt –, es half meinem inneren Seelenfrieden nicht wirklich. Mein Selbstwertgefühl rutschte auf der nach unten offenen Selbstsabotage-Skala geradewegs in den Vorhof der Katastrophenhölle. Am Tiefpunkt angelangt, wünschte ich mir tatsächlich, nochmals neu geboren zu werden. Dann aber alles anders zu machen. – Welch hoffnungsloser Gedanke!

Kurz und gut (für das innere Lernprogramm): Nachdem eine halbjährige Behandlung mit ätzenden Tinkturen in einem Düsseldorfer Haarinstitut überhaupt nichts verbesserte, empfahl mir mein damaliger Friseur zur Behebung meines Defizits ein neu entwickeltes Toupet. Aus echten Haaren geknüpft und lange haltbar. Das müsse man ja nur aufs restliche Haar kleben. Keiner würde etwas merken.

Ich trug es nicht lange. Und dennoch möchte ich an dieser Stelle eine psychologische Erkenntnis einfügen:

Bei fast allen Handlungen, die junge Menschen unternehmen, steht die eigene Identitätsfindung im Mittelpunkt. Auch Filme über Jugendliche drehen sich um pubertäre Krisen. Um die Fragen: „Wer bin ich?“ – „Wer möchte ich sein?“ und: „Wohin geht meine Lebensreise?“

Ausprobieren ist das A und O. Also probierte ich die Empfehlung aus, mir durch ein Toupet sichtbar mehr Haare zu verschaffen. Oder andersherum: Mehr Selbstbewusstsein zu bekommen. 

Das änderte sich im Sommer. Durch die intensiven Sonnenstrahlen blich das Haarteil aus. Auf einmal hatte ich zwei Farben auf dem Kopf: oben strohblondes Ersatzteil … und darunter hellbraunes Haupthaar. Das war mir dann doch zu affig. 

Mein Selbstfindungsprozess nahm seinen Lauf, als ich den „falschen Fiffi“ in die Tonne warf, meine Resthaare schulterlang wachsen ließ und den Wind wieder so wunderbar in meinen Haaren spürte. Da stellte ich auch erfreut fest, dass sich niemand an irgendetwas störte. Ich war halt so. Prima.

Mit sich selbst zu experimentieren ist kein Vorrecht der Jugend. Aber die Zeit zwischen 15 und 25 prägt uns wie keine andere. Alles ist neu, wenn wir uns selbst entdecken. 

Entdecken wir uns heute, am Beginn eines Jahres, auch wieder neu. Wagen wir den Aufbruch. Und lassen wir uns durch unsere Angst nicht abhalten.

Osho sagte zu seinen Lebzeiten: „Das Neue macht immer Angst, aber das Neue ist das Leben, und nur durch das Neue erreichst Du neue Quellen des Lebens, des Glücks.“

Es gibt nur einen Weg: Du musst auf Dich selbst zugehen. Denn wo Deine größte Angst liegt, liegt Deine größte Sehnsucht.

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp