white row boat on body of water

Die Geschichte von den Stränden

Die Komfortzone, die Bequemlichkeitsfalle, ist sehr mächtig. Sich nicht zu verändern, ist ja in aller Regel bequemer und weniger anstrengend. Auf jeden Fall aber sicherer. 

Wenn man keine Entscheidungen trifft, geht die Fehlerquote gegen Null. Meint man. Glaubt man. Hofft man. Doch gerade Menschen, die sich nicht bewusst entscheiden, fühlen sich oft hin- und hergerissen

Wer kann denn wissen, ob eine Persönlichkeitsveränderung wirklich Wachstum bedeutet oder Abbau nach sich zieht? Ob sie mich bereichert und wirklich freier macht? Oder scheitern lässt? 

Viele Menschen haben ihre Leichen im Keller. Aber der Keller ist vertraut. Wer kann sich sicher sein, dass in einem neuen Keller nicht noch mehr Unrat liegt? So habe ich ja wenigstens den Spatz in der Hand … 

Deshalb handeln zahlreiche Menschen nach der Devise: Lehre mich schwimmen, aber mach mich nicht nass! 

In psychotherapeutischen Sitzungen spreche ich häufig von folgendem Bild: 

Stell Dir vor, Deine Persönlichkeit wäre ein großer, langer Sandstrand. Dieser Strand hat sich allerdings im Laufe der Jahre und Jahrzehnte verändert, verfärbt, hat sich vermengt mit Schlick und Teer, mit Algen und Dreck. 

Hier lässt sich nicht mehr genussvoll in der Sonne aalen, kein feiner Sand rieselt durch die Finger, das Barfußlaufen macht keinen Spaß mehr … Dieser Strand ist also keine unberührte, vollkommene Daseinsform. Kein Karibikstrand, keine blaue Lagune … 

So möchtest Du es nicht mehr haben. So möchtest Du nicht mehr leben. 

Nun liegt ein kleines Boot fest vertaut an Deinem eigenen Strand – aber wie sollst Du damit in See stechen? Wie vorankommen? Und vor allem: Wohin? 

Die Idee des Patienten ist häufig sehr einfach: Es möge doch bitte der Therapeut, der Trainer, der Ratgeber, der väterliche Freund dafür sorgen, dass sich hier etwas Entscheidendes ändert. Fast kann ich den inneren Dialog meines Gegenübers hören, der sagt: 

„Lieber Therapeut, Du kennst Dich doch aus in der Welt und auf hoher See. Kannst Du nicht über das Meer zu einer Insel, einem Strand segeln, der viel schöner ist als meiner? Weißt Du, ich habe an meinem alten Strand zwar auch ein Boot liegen, aber ich traue mir den Weg über das Meer nicht zu. 

Kannst Du mir nicht einen wunderschönen Strand aussuchen für meine neue, selbstbewusste und allseits beliebte Persönlichkeit? Am liebsten wäre mir, Du würdest – wie von Zauberhand – den feinen, neuen Strand über das weite Meer zu meinem alten Ufer treiben. Und dann würde ich das neue Ufer so richtig begehen, erfühlen, durchwandern, erproben … 

Und wenn es dann wirklich wesentlich schöner ist als mein alter Strand – ja, dann lasse ich das Tau vom alten Ufer los und bin glücklich über das Geschenk einer neu gewonnenen Persönlichkeit.“

Der Therapeut, der Trainer, der väterliche Freund – sie sind aber nicht diejenigen, die für Dich arbeiten. Sie können Dir Navigationsinstrumente zur Verfügung stellen. Aber Dich aufmachen und rudern, das musst Du selbst. 

Ohne Eigenverantwortung gibt es keinen Passagierschein für den neuen Strand. Die Selbstverantwortung beim Treffen von Entscheidungen gibt Dir den Mut zum Aufbruch. Zum Aufbrechen von alten, verbrauchten Strukturen. Zum Loslassen, zum Weitergehen. Zur endgültigen Hinwendung auf das, was sich verändern will.

Das Neue macht Angst – daran ist es leicht zu erkennen. Aber nur, wenn Du Dich dem Neuen öffnest, hast Du auch die Chance, neue Wege zu finden, auf denen Freude, Erfüllung und Glück möglich werden. 

STUFEN

… ES MUSS DAS HERZ BEI JEDEM LEBENSRUFE 
BEREIT ZUM ABSCHIED SEIN UND NEUBEGINNE; 
UM SICH IN TAPFERKEIT UND OHNE TRAUERN
IN ANDRE, NEUE BINDUNGEN ZU GEBEN …

KAUM SIND WIR HEIMISCH EINEM LEBENSKREISE
UND TRAULICH EINGEWOHNT, 
SO DROHT ERSCHLAFFEN,
NUR WER BEREIT ZU AUFBRUCH IST UND REISE,
MAG LÄHMENDER GEWOHNHEIT
SICH ENTRAFFEN …

… WOHLAN DANN, HERZ,
NIMM ABSCHIED UND GESUNDE!

HERMANN HESSE

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp