Das Arndt-Gymnasium in der Krefelder Innenstadt. Reine Jungenschule, humanistisch geprägt, mit Latein als erstem Hauptfach. Wir schrieben das Jahr 1959. Unser Lateinlehrer hieß Dr. B. Aber niemand von uns Schülern in der Sexta (fünfte Klasse) nannte ihn so. Zumindest nicht, wenn wir unter uns waren, also auf dem Pausenhof. Denn wir lernten schnell von den Schülern höherer Klassen, dass es der „Sulla“ war.
Lucius Cornelius Sulla, sein Namensgeber, lebte von 138 bis 78 vor Christus und brachte es zum General des Senats, zum Konsul und später zum Diktator in der Spätphase der Römischen Republik. Schon früh entwickelte der Original-Sulla einen Trieb zur Macht. Ich glaube aber, dass unser Klassen-Sulla, äh, Klassenlehrer, seinen Namen nicht durch Machtgehabe, sondern durch ständiges Korrigieren der Aussprache des Namens „Sulla“ (mit scharfem „S“) von der Klasse neun verliehen bekommen hatte.
Unser Schulhof war voll betoniert, ein trostloses Einerlei. Deshalb blieb der Blick unmittelbar an jener mannshohen Bronzefigur hängen, die in der Mitte des Hofes auf einem vertrauenerweckenden, festen Sockel stand: ein altgriechischer Speerwerfer, die tieferen Regionen nur von einem Blatt bedeckt.
Nach jeder Pause mussten sich die Schüler der fünften und sechsten Klasse auf dem Hof zu zweit neben- und hintereinander aufstellen und am Speerwerfer schweigend warten, bis sie vom zuständigen Lehrer dort abgeholt wurden, der sie dann – „Pssst! Leise!“ – die Treppen hoch ins Klassenzimmer führte.
Dr. B. schien manchmal etwas verträumt und vergaß schon mal, uns Kinder bei Unterrichtsbeginn auf dem Schulhof einzusammeln. Dann nutzten wir die Zeit und deklinierten seinen Spitznamen laut und weithin hörbar durch. Die ganze Klasse rief also: „Sulla – Sullae – Sullae – Sullam – Sulllaaaahhhhh.“ Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Ablativ.
Dr. B., also „Sulla“, schaute aus dem Klassenfenster in der zweiten Etage. Er hatte uns vergessen. Auch auf diese Entfernung hin sah man ihm die gemischten Gefühle an. Wir verhielten uns unten auf dem Schulhof auffallend laut – und er konnte Lautstärke nicht ertragen –, lagen aber grammatikalisch völlig richtig. Der Ärger über die störende Lautstärke und der Stolz auf die korrekte Grammatik ließen bei ihm uneindeutige Gesichtszüge entstehen.
Leider war mein Wunsch, die lateinische Sprache zu beherrschen, nur ansatzweise vorhanden. Die ersten Zwei-Wörter-Sätze in der fünften Klasse bekam ich noch gut geregelt. Also: „Die Flamme flackert“ (Flamma flagrat) und „Die Tür knarrt“ (Porta tonat). Auch noch: „Das Huhn gackert“ (Gallina clamat). Aber dann wurde es schon eng, weil ich wenig Lust verspürte, die lateinischen Vokabeln zu lernen.
Drei Schuljahre weiter … Dr. B. bekam eine Eingebung. Da stand er nun vor mir und sagte: „Bube, wenn Du lernen würdest, könntest Du es auch.“ Und fragte mich: „Wie heißt dieser Satz in lateinischer Sprache?“ Die Antwort gab er selbst: „Si vellem possem!“ Dann lieferte er die korrekte Übersetzung gleich mit: „Wenn ich wollte, könnte ich!“
Am Tag danach malte ich den Satz schön bunt auf Papier und steckte ihn in einen selbstgebastelten kleinen Holzrahmen. In der nächsten Lateinstunde holte ich ihn feierlich aus meinem Tornister und stellte den Spruch mitsamt Rahmen dekorativ auf mein Schreibpult.
Dr. B. war nicht sauer. Im Gegenteil. „Sehr gut, Bube! Halte Dich daran!“, meinte er nur.
„Si vellem possem“ schaut mich noch heute unentwegt an. In meiner Erinnerung, in meiner Fantasie – und manchmal sogar in meinen Träumen. Den Holzrahmen gibt es immer noch. Nur die Sprüche haben gewechselt. Irgendwann hieß es dort: „4 minus reicht!“
Sulla, Entschuldigung, Dr. B., weilt schon viele Jahre nicht mehr unter uns. Aber zu meiner Hochzeit mit Claudia schrieb er noch einen langen, berührenden Brief. Er war vom „alten Schlag“. Und ein Humanist, ein Menschenfreund, ein beseelter Pädagoge. Wenn wir ehrlich sind, haben wir den meisten Lehrern viel zu verdanken.
Auch wenn „Sulla“ mir am Ende dieses Textes womöglich mit Augenzwinkern geantwortet hätte: „Si tacuisses, philosophus mansisses.“ Frei übersetzt: „Wenn Du das nicht geschrieben hättest, wärst Du ein Philosoph geblieben.“
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp