Ein Berg ohne Tal ist eine Hochebene … aber kein Berg

Es ist eine Binsenweisheit, dass das Leben in Zyklen verläuft, auch in den Polaritäten von Aufstieg und Abstieg, von oben und unten, von Glück und Pech, von Siegen und Verlieren. Reinhold Messner, Südtiroler Extrem-Bergsteiger, wurde in einer Talkshow von Reinhold Beckmann gefragt: „Wie kann ich mir die Gipfelsituation im Hochgebirge vorstellen? Ist dort oben Weite?“

Messner verneinte: „Ganz im Gegenteil. Oben ist die Einsamkeit, die Leere … oben ist alles eng. Es fehlt der Sauerstoff, der Platz ist eng, die Zeit ist eng für den Abstieg …“ Und fügte erleichtert hinzu: Das Zurückkommen von oben ist wie eine Neugeburt!“

Der eine große Moment des Glücks … Er ist selbst auf dem Gipfel nicht von Dauer.

Also – immer oben bleiben? Das ist wohl keine gute Idee. Die Sonne scheint für uns ja auch nur am Tag. Dann macht sie Platz für die Nacht.

Das sah Harald (Name geändert), ein 52-jähriger Mann, aber anders. Denn er war auf der Suche nach dem dauerhaften Glück. Das hätte er ja schon mal für zehn Minuten gehabt. Ein unglaublich euphorisches Glücksgefühl. Er kannte noch den genauen Zeitpunkt. Am 27. August des vergangenen Jahres war es, und zwar von 17 bis 17.10 Uhr. „Und das“, so betonte er, „möchte ich jetzt immer haben.“ Deshalb wäre er hier.

‚Kein Wunder‘, dachte ich bei mir, ‚dass ich schon der sechste Therapeut bin, bei dem er es versucht …‘ Wir sprechen im Kollegenkreis vom „Therapeuten-Hopping“.

Mit Vernunft war ihm nicht beizukommen. Immer wieder drehte sich alles um diese zehn Minuten Glückseligkeit. Dabei kam er mir vor wie ein kleines Kind, das sein Hörnchen mit Himbeereis für immer in seinen Händen festhalten will. Wir kennen die Folgen: kein Genuss und klebrige Finger.

Was er denn gemacht habe am 27. August des vergangenen Jahres zwischen 17 und 17.10 Uhr?, wollte ich wissen. „Das weiß ich noch genau!“ Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Ich laufe sehr gerne. Meistens kürzere Distanzen. Aber Ende August hatte ich mir mehr Zeit dafür genommen und lief eine längere Strecke durch den Stadtwald. Das hat mir gutgetan. Und dann erlebte ich auf einmal dieses Glücksgefühl. Das muss doch zu trainieren sein!“

Was sollst du dazu sagen?! – „Da nehme ich aber mal stark an“, meinte ich schmunzelnd, „dass Sie sich in eine richtig schöne Trance gelaufen haben. Da waren Sie wohl im Super-Flow.“ – „Ja“, erschrak er fast, „meinen Sie, es ist nur dieses ‚Flow-Gefühl‘ gewesen, weil ich doppelt so lange gelaufen bin wie sonst?“ Er hielt für drei Sekunden inne. „Und dafür mach ich Therapie und verschleiß die Therapeuten?“

Kopfschüttelnd verließ er meine Praxis. Und lächelte dabei. Auch im Kollegenkreis tauchte er nicht mehr auf. Ich bin mir sicher: Ab jetzt schleckt er sein Himbeereis sofort, nachdem er es bezahlt hat.

Jede Gipfelerfahrung kann ein Triumph sein – vorübergehend. Glück ist kein Muskel, den ich nur regelmäßig trainieren muss, um den Schalter umzulegen. (Auch wenn „Glücksprediger“ das oft behaupten.) Der Abstieg gehört zum Leben dazu. Wie die Erholungsphase nach großen Anstrengungen. „Das Zurückkommen von oben ist wie eine Neugeburt!“, beschrieb es Reinhold Messner.

Es ist auch klar: Wenn es den Abstieg nicht gäbe, lägen die 8000er-Gipfel voll mit erfrorenen Bergsteigern.

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp