Ist das eigentlich ein „Running Gag“? Da sitze ich wieder mal in der Kundenwartezone des Autohauses. Die Sommerreifen werden aufgezogen. Mitte Mai ist es schon. Aber durch Corona war vorher nichts möglich. Im Jahr 2020.
Abstand halten gilt. Und Mund-Nasen-Schutz. ‚Da kann ich jetzt aber schlecht meinen obligatorischen Kaffee trinken‘, denke ich bei mir.
Ein weiter Sprung zurück: Selbst Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) lässt den Direktor im „Faust“ (der Tragödie erster Teil) im Vorspiel auf dem Theater sprechen: „Euch ist bekannt, was wir bedürfen: Wir wollen stark Getränke schlürfen.“
‚Da fehlt mir was zum Genuss!‘ – Ist es nicht so, dass Menschen, die nicht genießen können, irgendwann ungenießbar werden?
Kein Kunde wartet mit mir. Die Sesselchen stehen weiter auseinander. Die Pflanzen hier sind künstlich. Wie so vieles in unserem Leben. ‚Künstlich hat mit Kunst nicht viel zu tun‘, sage ich mir.
So leer war es hier noch nie. Es wird telefoniert. „Corona-Gedöns“, höre ich an den Beratertischen. „Corona-Jedöns“, also mit „J“, sagt man bei uns. Das „Corona-Jedöns“ geht manchen langsam auf den Senkel. Die Menschen möchten das Leben wieder genießen können. – Das Leben genießen?
Da fällt mir gerade die unglaubliche Geschichte von Steffi wieder ein. Sie war damals achtunddreißig. Die letzten vier Jahre hing sie in einer extrem komplizierten Trauer. Ihr Mann hatte sich ohne Ankündigung, von einem auf den anderen Tag, und mit seelisch sehr verletzenden Worten und Handlungen aus dem Staub gemacht. Überließ sie sich selbst (und ihrer damaligen Therapeutin). Die Ehe war kinderlos geblieben. Steffi verlor alle ihre Lebenssäulen. Ihren Lieblingsmenschen, ihr Zuhause, ihre Kontakte und ihren Job in der Reisebranche. Sie konnte nicht genug lachen, um Kunden zu binden. Sie passe nicht ins Team, wurde ihr gesagt. Sie wäre nicht geeignet für diesen Beruf als Reiseverkehrskauffrau.
Steffi litt still vor sich hin. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände – kein Lächeln und keine funkelnden Augen mehr. Eine halbe Ewigkeit hing sie in ihren Depressionen und im Trauma fest.
Erst nach Jahren … irgendwann … kam die Wut so richtig hoch. Damit konnte sie anfangs gar nichts anfangen. Wut kannte sie nicht. „Steffi“, sagte ich ihr, „Wut ist Vitalität, ist eine große Kraft. Das Gegenteil von Depression.“
Vier Wochen später: Steffi kam zur Therapie, war auf Widerstand gebürstet. „Wissen Sie was, Herr Rupp? Ich hab die Schnauze voll! Ich such jetzt keinen neuen Job. Ich will dem Staat auch nicht auf der Tasche liegen. Ich habe was gespart. Ich mach mich vom Acker. Nur weg, die Welt erleben.“
„Das ist ja toll!“ Was sie denn vorhabe?
Vier Wochen wolle sie mitarbeiten in einem Kindersozialprojekt in Kambodscha. Und dann für fünf Monate als Backpackerin nach Neuseeland, ans „Ende der Welt“ – auf den Spuren von „Herr der Ringe“. Der Film sei ja dort gedreht worden. Steffi: „Der hat mich damals sehr fasziniert. Und jetzt möchte ich dahin und mir meinen Traum erfüllen!“ Dabei lächelte sie – endlich – einmal ganz unbeschwert.
Ihre neue Freiheit genoss sie in vollen Zügen. Als ob wirklich ein Schalter umgelegt worden wäre.
Sie führte Tagebuch und setzte den Blog ins Internet. So informierte sie ihre Schwester und ihre Freundinnen fast jeden Tag. Sie war „on FLOW“. Mit wenigen Tiefen und vielen Höhen. Auf ihren Rucksackreisen lernte sie zahlreiche Menschen kennen – junge wie alte. Sie spürte das kostbare Geschenk, nicht allein zu sein.
Den Mount Cook, den höchsten Berg Neuseelands, hat sie auch noch erklommen. Real und symbolhaft – für ihren Lebensaufstieg aus dunklem Tal hinauf ins helle Licht. Sie schaute nicht mehr nach unten oder hinten. Nur noch nach oben und nach vorn.
Von ihrer Lebensreise zurück, fand sie im Ausland ihre Berufung. Mich wundert es nicht: Sie ist wieder in der Reisebranche tätig.
Wird fortgesetzt …
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp