Szenenwechsel: In unserer therapeutischen Ausbildung in Münster mussten wir „Mutproben“ bestehen. Wie soll man auch als schüchterner Therapeut Patient*innen zu mehr Selbstsicherheit verhelfen?!
Die hohe Schule des Selbstsicherheitstrainings waren die sogenannten „shame attacking exercises“. Die „Scham angreifenden Übungen“. Also, Verrücktes tun ohne sich zu schämen. Das war für mich – nach meinen ganzen Vorübungen in der Jugendzeit – kein großes Problem. Wir waren etwa zwanzig Student*innen der Verhaltenstherapie. Die Aufgaben zogen wir aus einem Hut. In Dreiergruppen ging es dann unter das Volk.
Einer von uns hatte die Aufgabe gezogen, vor dem Eingang des größten Kaufhauses lauthals ein zeitgenössisches, provokatives Gedicht zu rezitieren. In dieser Prosa kamen auch gewagte Zeilen vor wie: „Ich gestehe, ich habe Geschlechtsverkehr ausgeübt – mit geöffneten Augen!“
Da stand also unser Kommilitone und mühte sich nach Kräften, laut und deutlich gerade diese Textstelle vorzutragen. Was geschah? – Nichts. Die meisten Menschen dachten sowieso nur an ihre Einkaufszettel. Einige wenige schüttelten leicht ihren Kopf. Und ein paar Student*innen blieben stehen und klatschten laut und johlend Beifall.
Der Kommilitonin von uns war die Aufgabe zugefallen, mit einem Handtuch über der Schulter ins naheliegende Hotel zu gehen und an der Rezeption nach einer freien Dusche zu fragen.
Und auf meinem Zettel stand: „Geh die Salzstraße rauf und runter, bleibe vor jedem Schaufenster stehen und rufe jedes Mal laut aus: Nä, was ein herrliches Design! – Wobei „Design“ als „Dessäng“ auszusprechen war.
So, das fällt mir jetzt alles beim Reifenwechsel ein. Den Stürmen des Lebens gegenüber gewappnet sein. In der Mitte bleiben. Wenn Du dann bis an die Ränder Deines Lebens gehst, auch die eine oder andere verrückte Sache ausprobierst, können Dir die starken Winde weniger anhaben. Dann wird Dein Leben griffiger. Dann kommst Du seltener ins Schleudern. ’Das ist doch wie beim Auto‘, denke ich.
Zu welchen Erinnerungen ein Reifenwechsel doch beitragen kann! Wann sonst hat man so viel Zeit dazu?!
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp