Die Worte des Dichters im Zentrum der Stadt

Teil 1

Grüner Finger trifft Technik. Die beiden Bilder sind mir vorher noch nicht aufgefallen. Ich sitze – wie jedes halbe Jahr – in der Werkstatt und warte auf den Reifenwechsel. Herbst ist es. Die Schluffen vom Auto müssen griffiger werden. Es liegt ja schon viel Laub auf den Straßen. Da kann es rutschig sein. Man könnte ja ins Schleudern kommen.

’Manche Menschen schleudern durch ihr Leben‘, denke ich. Die Fliehkräfte des Alltags ziehen und zerren an ihnen wie ein Sturm, der ständig die Richtungen wechselt.

Wir werden aus der Mitte gerissen, immer und immer wieder. Sind oft nicht vorbereitet auf die Stürme des Lebens. Das macht vielen Menschen Angst.

Ich erinnere mich: Epigenetisch betrachtet habe ich die Angst meiner Mutter „geerbt“. Ich war als Kind zwar nicht wirklich zurückhaltend, aber irgendwie sehr brav. Das fand ich schon in jungen Jahren völlig unpassend. Ich hätte mich lieber als Rebell gesehen.

1965, als ich 17 war, meinte ich, ich müsste mich abhärten gegen die Widrigkeiten des Alltags. Gegen Verletzungen aller Art. Ich müsste meine Seele unverwundbar machen. Mir schoss es durch den Kopf: ‘Geh in die Stadt und mach etwas, das auffällt. Setz dich öffentlicher Beachtung aus. Lass die Leute den Kopf schütteln, die Nase rümpfen, das Maul zerreißen. Lerne, dass dir das nichts mehr ausmacht. Härte dich ab. Sei kein Sensibelchen mehr. Schluss damit!‘

Also kaufte ich mir eine gelbe Plastikente auf Rollen. Zog meine Jacke auf links und steckte mir einen Kamm hinters Ohr. Am Samstag lief ich dann quer durch die City. Die Stadt war voll. Fußgängerzonen gab es noch nicht. Der Verkehr hatte Vorrang, hauptsächlich die Autos.

Ich zog zwei Kilometer lang über die Straßen. Schnurstracks durch die Innenstadt. Die Plastikente wackelte an der Schnur hinter mir her.

Ob ich auffiel? Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube eher nicht. Vielleicht als Exot. Niemand reagierte auf mich. Keiner entrüstete sich. Keiner hielt sich den Bauch vor Lachen. Ich war nur ein Phänomen, das anders durch die Gegend lief als die „Normalen“.

Ich habe dann mehrere Varianten ausprobiert: Im August – also antizyklisch – mit Clownnase durch das Zentrum spaziert. Am Café laut gesungen. Aus dem Stegreif „geschauspielert“. Heinz Erhardt imitiert.

Mir ging es dabei in erster Linie nicht um Beachtung. Im Grunde war ich froh und erleichtert, wenn Reaktionen ausblieben. Mein Motiv war, gleichgültiger demgegenüber zu werden, was andere Menschen über mich denken. Mut und Zuversicht aufzubauen – das war mir wichtig.

’Vielleicht hätte ich Comedian werden sollen‘, fiel mir später für einen Moment ein, bevor ich ihn umgehend wieder verwarf.

Eines Tages dachte ich: warum soll es Speakers’ Corner nur im Londoner Hyde Park geben? Also fing ich an, in Fußgängerzonen Reden zu halten. Nichts Politisches. Mit Vorliebe über das „Nichts“. Also, was können wir uns unter dem „Nichts“ vorstellen?! Ist das „Nichts“ nichts? Oder etwas, das wir nicht kennen? – Ich redete mich in einen Zustand hinein, in dem ich selber kaum noch mitbekam, was da aus mir herausbrach. Über das „Nichts“ kannst Du enorm viel erzählen, wenn Du nicht nachdenkst. Manchmal redete ich mich um Kopf und Kragen, meinte Claudia.

Als ich zum ersten Mal loslegte („Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger …“), ungeplant, einfach so – es war in einem Städtchen im Westerwald – war Claudia schockerstarrt. Es kam ja sehr spontan. Schnell verschwand sie hinter dem erstbesten Wäschegeschäft, um Sekunden später an der nächsten Straßenkreuzung abzutauchen.

Mein Kopf blieb dran. Ich tat ja keinem weh mit meiner Art.

Wird fortgesetzt

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp