Trage Deine Krone …

Das Krafttier in Dir

„Entspannt Euch. Ihr braucht nichts aktiv zu tun, gebt Eurem Unbewussten einfach die Erlaubnis, Euch durch die Geschichte zu führen, die ich Euch jetzt erzählen möchte…“

Es ist Herbst. Wir sitzen auf Meditationskissen im Kreis. Der Weisheitslehrer, wie er sich selbst nennt, erzählte uns zuvor von indianischen Krafttieren. Jetzt soll unser ganz individuelles Kraft- und Schutztier zu uns finden. In dieser Trance sollen wir unseren symbolischen, aber auch „realen“ Lebensbegleiter aus der Tierwelt kennenlernen.

Gut, das mag sich jetzt für manche Skeptiker sehr abgedreht anhören. Aber Experimente gehören zum Leben. Und Lernen hat noch nie geschadet.

Also … Die Fantasiereise geht durch einen Dschungel. Auf gewundenen, verschlängelten Pfaden erreichen wir einen hohen Felsen vor einem tiefen Abgrund. Und jetzt? – Der Weisheitslehrer ermutigt uns zum Sprung. Okay, leicht weggetreten und in Trance gelingt das schon.

Wo es weitergeht? In einer Art „Parallelwelt“, einer fruchtbaren Oasen-Landschaft. Nebel liegt über den Feldern. Gleich soll das Tier vor unseren inneren Augen erscheinen. Zumindest schemenhaft. Oder wenigstens als Gefühl. ‘Nun gut, schauen wir mal‘, denke ich in diesem Moment.

Ich hatte mir vorher meine Favoriten überlegt. Ein Puma wäre schön. Tiger auch. Oder ein Adler, Albatros, irgendwas Majestätisches. Bloß kein schwaches Tier. Auch kein Wasserschwein, kein Affe, Frosch oder Erdferkel. Nein, es sollte schon ein überzeugendes Krafttier sein.

Zwanzig Minuten später … Claudia ist sehr berührt von ihrer meditativen Erfahrung. Ein großer, majestätischer Hirsch ist ihr gerade als Krafttier begegnet. Nicht nur so – er brachte gleich eine beeindruckende Botschaft mit. Sie lautet: „Trage Deine Krone wie ich mein Geweih!“

Der Weisheitslehrer nickt anerkennend. Und interpretiert den Hirschen auf indianische Weise: Als Wächter des Herzens. Als Symbol für Größe und Charisma. Auch für Sanftmut und Stärke zugleich.

„Und bei Dir, Georg?“ fragt er mit wohlwollendem Augenaufschlag.

Ja, was soll ich sagen? – Bei mir geschah lange Zeit nichts. Die Erzählung floss an mir vorüber. Kein Tier trat aus dem Dickicht hervor. Eigentlich sah ich nur Nebel, so sehr der Trainer auch blühende Landschaften entwarf. – Da … kurz vor dem Ende … schemenhaft von links … Was war denn das? Grau, unspektakulär. ‘Diesen Körperbau kennst Du doch!‘ schoss es mir durch den Kopf. Und: ‘Kann nicht sein, bitte nicht!‘ – Was in meiner Fantasie auf mich zutrabte, war ein ganz normaler grauer … Esel! – ‘Ein Esel?! Warum in aller Welt ein Esel? Habe ich was angestellt in meinem Leben? Ja, wie peinlich ist das denn?‘ funkten fassungslos Milliarden Nervenzellen quer durch mein Gehirn.

„Ein Lastentier“, spricht es aus mir, fast mit dem Unterton eines Versagens.

Selbst der Weisheitslehrer ist sprachlos. „Dazu fällt mir keine Deutung ein“, meint er irritiert und schaut mich mitfühlend an.

‘Zufällig falsch …‘ tröste ich mich zunächst. Und: ‘Mein wahres Krafttier kommt schon noch. Neue Trance, neues Glück.‘ – Pustekuchen. Der Esel blieb. Bis heute.

Und so habe ich mich zwangsläufig mit den Charaktereigenschaften der Lastentiere auseinandergesetzt. Die sind gar nicht so schlecht. Im Märchen „Die Bremer Stadtmusikanten“ von den Brüdern Grimm hat der Esel – im wahrsten Sinne des Wortes – die „tragende Rolle“ inne. Er trägt die Last der drei anderen Mitstreiter auf seinem Rücken: Den Hund, die Katze und den Hahn. – Der Esel bestimmt aber auch, wie weit er geht. Er lässt sich nicht zwingen. Er verlangsamt. Entschleunigt. Sein Gang ist „meditativ“. Eile mit Weile, will er Dir zeigen. – Und der Legende nach war einer ja auch im Stall von Bethlehem. Ganz nah am kleinen Jesus.

Was soll ich sagen? Sich wehren ist zwecklos. Mittlerweile habe ich mit dem „Krafttier Esel“ meinen Frieden gefunden. Denn wenn wir voll und ganz akzeptieren, dass das Leben uns auch Lasten auferlegt, können wir aufatmen und die schönen Seiten intensiver genießen.

Claudia hat ihren majestätischen Hirsch. Gut. Aber jeder Esel, den ich seither sehe, berührt mein Herz. Wir sind längst Freunde geworden.

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp