Die Köschenden

Als ich nichts von Dada wusste

„Hört sofort auf!“ zischte der Mitschüler in der Reihe hinter uns. Aus einer Ecke feuerte ein anderer ein kleines Papierknäuel mit einem Gummiring auf uns ab – und traf mich an der Schläfe. Aua.

Gut, der Physiklehrer war noch nicht in der Klasse. Da konnte es schon mal turbulent hergehen. Wir waren damals nur Jungs. Dreizehn, vielleicht auch vierzehn Jahre jung. Peter und ich, und alle Kameraden. Es war 1962. Die Zeit, als die Beatles mit „Love me do“ ihren ersten Welthit landeten.

Wenn ich im Religionsunterricht per stiller Post die Lieblingssongs abfragte, um die Monatshitliste unserer Klasse zu erstellen, war ich … ja, heute würde man sagen: eine coole Socke.

Aber dieses atonale Gekrächze, was Peter und ich erzeugten, war fremd für die Ohren der anderen und ging ihnen mächtig auf den Zeiger.

„Gekrächze“ ist eigentlich nicht richtig. Es war eine eigene Tonalität, ein eigener Sprachduktus, den wir zu kultivieren begannen. Sagen wir einfach: Es war Kunst!

Wir nannten unser Duo „Die Köschenden“. Was nichts anderes hieß als „die Küssenden“, aber eben verballhornt. Oder pubertär. Oder beides. Blödsinn halt.

Das Spießerleben wollten wir durch den Kakao ziehen. So kam uns die normale Begrüßung mit Handschlag altmodisch vor. „Also“, klärten wir die Klassenkameraden auf, „wir begrüßen uns jetzt so: rechte Hände krümmen, ineinanderhaken. Rechte Füße seitwärts aneinanderhalten. Jetzt auf und nieder wippen – und dabei laut rufen: ’Tatahühü‘!“ – Klingt zunächst kompliziert, war aber nur eines: bescheuert.

„Tatahühü“ und andere Laute wurden unser Markenkern.

Einige konnten wir davon überzeugen, es uns gleichzutun. Aber die meisten konzentrierten sich auf Mathe und Physik. Oder Englisch und Französisch. Da schrieb ich lieber unsinnige Gedichte.

Später habe ich den Dadaismus als satirische, aber auch politische Kunst- und Literaturrichtung für mich entdeckt. Die hatte ihre Blütezeit ja nach dem ersten Weltkrieg.

Im Rückspiegel des Lebens betrachtet, bleibt kaum etwas, wie es war. Der so genannte Ernst des Lebens bügelt im Laufe der Jahre so manche Euphoriespitzen wieder glatt.

Peter habe ich nur noch ein einziges Mal in meinem Leben getroffen. Aber manchmal laufen mir alte Klassenkameraden, also Eingeweihte aus der damaligen Zeit, über den Weg. Sie sagen bis heute nicht „Georg“ zu mir. Das „Tatahühü“ wurde zu meinem Spitznamen. „Tatahühü, wie geht’s?“ heißt es dann, wenn wir uns begegnen. Und wir begrüßen uns mit der gekrümmten Hand. Und tönen so laut wie früher. War das doch eine geile Zeit!

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp