Solange es das Staunen gibt, feiert die Banalität keine Triumphe

Neulich blätterte ich in einer Frauenzeitschrift. Ich blättere immer wieder mal in Zeitschriften, die sich nicht in erster Linie an uns Männer wenden. Die lese ich sogar viel lieber als Zeitschriften, die Männer mit Sixpacks nach jahrelangem Hantel-Training zeigen. 

In dieser Zeitschrift fand ich die Rubrik „Zeit fürs Wesentliche“. Es ging um das Thema „Das alte Staunen“ und handelte von Fliegenpilzen, die ihre weiche Schale durchbrechen und hinaus ins Licht wachsen. Und auch das stand dort: In jedem Erwachsenen steckt noch das Kind, das er einmal war. Vielleicht gelingt es uns ja doch hin und wieder, über die Wunder dieser Welt zu staunen. 

Dann dachte ich daran, wie es wäre, wenn wir uns vorstellen würden, erst vor kurzem geboren zu sein. Der dreijährige Junge, das fünfjährige Mädchen …

Was alles würden wir zum ersten Mal in unserem Leben wahrnehmen? Was würde Dich überraschen? Was würdest Du mit großen Kulleraugen beobachten? Was mit großem „Oh Oh Oh Oh“-Mund bestaunen? Was würde Dich begeistern? 

Ist es der Riesenkäfer? Der erste Schneeball? Die Pfütze, die ihr Wasser so herrlich herumspritzt, wenn Du voller Freude hineinspringst? Das erste krakelige Bild, das nur Du so malen kannst? Das Aufdecken von Unterschieden, die Dich staunen lassen, das Entdecken einer anderen Hautfarbe? Ist es der Luftballon, der in Kreiselbewegungen gen Himmel schwebt? 

Wann hast Du zum letzten Mal gestaunt?

Klar, wir Erwachsenen sind gegen Überraschungen gefeit. Uns hat das Leben unachtsam gemacht, abgebrüht, an uns prallt das meiste ab. Alles ist so selbstverständlich geworden. 

Es ist Deine Entscheidung: Du kannst das Staunen neu entdecken. Tag für Tag. Und es ist ganz einfach: über Deine Sinne, über Deine Sinnlichkeit. Die Sinne sind nämlich ganz leicht zu bedienen. Und – wir haben sie immer bei der Hand.

Wann stehst Du morgens in aller Frühe auf und beobachtest schweigend, wie langsam die Sonne aufgeht? 

Wann setzt Du Dich wieder in die Schaukel wie ein Kind? Überlässt Dich dem Schwingen und fühlst Dich frei?

Wann stellst Du Dir eine Rose auf den Schreibtisch und sagst Dir: „Das bin ich mir wert!“?

Ein tibetisches Sprichwort sagt: „Werde wieder wie ein staunendes Kind, das die Welt entdeckt – jeden Augenblick neu.“ 

Es gibt so viel Sinn … und Un-Sinn zu entdecken. Deshalb gebrauche Deine Sinne. Täglich. Aus welchen Gründen hat das Leben sie Dir sonst geschenkt? 

Nachklang:

Ende des letzten Jahrhunderts ging André Heller mit seinem „Wintergarten-Varieté“ auf Tournee. Er zeigte die letzten Vertreter aussterbender Künste. Der Abend war berührend und umjubelt.

Als am Ende die kleinwüchsige Olga und ihr Mann, die durch das Programm geführt hatten, an die Bühnenrampe traten, gipfelte ihr kurzer Dialog in einem Satz, der mir seither nicht mehr aus dem Sinn geht: „Solange es das Staunen gibt, feiert die Banalität keine Triumphe.“ Kann man den Wert des Staunens berührender und wahrhaftiger darstellen?

Lassen wir uns zum Staunen verführen. Das Leben wird es uns danken.

In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp