Es wird kälter. Wir hier am Niederrhein sagen: „Et is usselig kalt.“ Am 4. November. Gewissermaßen „zwischen den Jahren“. Also zwischen goldenem Oktober und dem Weihnachtsmarkt.
Claudia sagt: „Du brauchst mal wieder eine neue dicke Winterjacke.“
Ich habe ja eigentlich nie Zeit, nach neuen dicken Winterjacken zu suchen.
„Ich habe noch eine alte dicke Winterjacke“, antworte ich. „Und ich hab jetzt gerade auch nicht die Zeit zu suchen.“
„Das weiß ich“, meint Claudia. „Aber heute ist verkaufsoffener Sonntag. Und die Markenjacken sind heute, aber auch nur heute, um 20 Prozent reduziert.“
Ja, was sollst Du da sagen?!
„Warum tut es denn meine alte dicke Winterjacke nicht mehr?“ –
„Die sieht abgetragen aus“, antwortet Claudia.
„Abgetragen? Wo denn?“ –
„Ja, guck Dir mal den Kragen an. Den bekommst Du nicht mehr sauber. Und die Jacke schimmert auch an manchen Stellen. Die ist abgetragen.“ –
„Abgetragen? Das hab ich noch nie so gesehen!“ –
„Das kannst Du ja auch nicht so sehen mit der Jacke am Leib. Ich seh das ja von außen, und da seh ich den Speckkragen. Den kriegst Du nicht mehr sauber!“ –
„Meinst Du, Du kriegst den eher sauber als ich?“, frage ich, so frei in den Raum …
„Den bekomme auch ich nicht mehr sauber. Der ist einfach abgetragen.“ Und ergänzt: „Lass uns mal schnell fahren. Wir gucken eben, kostet ja nichts.“
„Ich brauch ja auch noch spezielle Batterien für die Feuermelder, die alten piepsen andauernd“, sage ich noch.
Angekommen. Im Untergeschoss gibt es Haushaltsartikel und Batterien.
„Lass uns erst nach oben fahren, Wintermode für Herren, zweite Etage.“
Auf der Rolltreppe rollen Menschen nach oben und unten. Irgendwie sind die auch nicht mehr in Sommerlaune. Die Freiflächen sind schon zugestellt mit Nippes und Kram. Das kann kein Mensch wirklich gebrauchen wollen. Neu sind in diesem Jahr anscheinend Weihnachtsteller mit bemalten Hundeköpfen.
So, wir sind in die zweite Etage hochgerollt. Wintermode für Herren. Meine Frau organisiert mit sympathischem Lächeln den kompetentesten Berater, der gerade frei ist.
„Wir probieren mal zwei Größen aus“, sagt der nette Verkäufer. Wahrscheinlich trägt er selber Herrengröße 46. Ein jugendlich schlaksiger Typ.
Mit der kleineren Größe scheint er bei mir nicht einverstanden.
„In der größeren Form haben Sie etwas mehr Platz für die Lebensfreude!
Ja, ich werd nicht mehr … Was meint der jetzt mit „Lebensfreude“? – Oben? Mitte? Unten?
„Hier!“ sagt er und zeigt auf die vier Kilo, die noch zwischen mir und meiner Zufriedenheit stehen. Zielsicher hat er den Scheitelpunkt meines Bauchansatzes getroffen.
Mehr Platz für die Lebensfreude … Je länger ich mit dem Verkaufsberater zu tun habe, umso mehr gefällt mir seine Einstellung: Freiheit für Lebensfreude! „Nichts soll einengen“, meint er ganz ohne Ironie.
Mehr Platz für die Lebensfreude?! Ist das nicht ein toller Gedanke?!
Meine Physiotherapeutin drückt es so aus: „Wenn sich der Bauchbereich nach vorne wölbt, haben die inneren Organe mehr Platz.“ – Hallelujah!
Die „Lebensfreude“ vergesse ich nicht. Jetzt auch nicht in der Herrenmode.
Leute, verbiestert sein hilft doch auch nix. Idealgewicht ist ideal für die, die es haben. Solange sie nicht die Gesundheit gefährdet, ist ne kleine Plauze doch eine gute Form des Genusses. Verknöchert und enthaltsam leben ist nicht zwingend vorgeschrieben. Mensch, feier Dein Leben! Lass Raum für Entwicklung. Auch in den Konfektionsgrößen.
Meine Frau schien jedenfalls sehr zufrieden, als ich dem netten Verkäufer eine Lebensfreude abgekauft habe: mit 20 Prozent Nachlass, nur heute. Und das Beste: Die neue Jacke ist überhaupt noch nicht abgetragen!
Ins Untergeschoss zu den Batterien sind wir auch noch gefahren. Die hingen sogar in Griffhöhe. Welche Freude!
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp