Wieviel Selbstwert darf‘s denn sein?

Das kleine Wörtchen „und“

Es gab eine Zeit, da rutschte mein Selbstwertgefühl wie auf einer kilometerlangen Abfahrtspiste zielstrebig nach unten. Das war in der Mitte meiner Pubertät. Im Gegensatz zu meinen Klassenkameraden wollte mein Körper nicht nach oben schießen. Klar, wenn man kurz gewachsene Eltern hat, kann kein langer Kerl entstehen.

Im Tanzschuppen – damals tanzte man ja noch zusammen und zappelte nicht selbstbezogen vor sich hin – hielt ich immer erst Ausschau nach den Mädels mit ähnlich gelagerter Wachstumshemmung. Durch den Vergleich mit den „echten Kerlen“ machte ich mir meine Jugendzeit selbst schwer. Irgendwann habe ich dann gelernt, darüber zu stehen. 

Ja, es ist schon ein Kreuz mit dem Selbstwertgefühl… Warum glauben nur so viele Menschen, dass sie weniger wert seien als die Nachrichtensprecherin, der Olympiasieger, die Sängerin oder die Nachbarin mit der guten Figur? Klar, daran ist sicher die Kinderzeit schuld. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass Menschen mit „Minderwertigkeitskomplexen“ falsche Bewertungen zugrunde legen. Sie verknüpfen nämlich das Ergebnis einer Handlung mit ihrem Wert als Mensch: Hier habe ich versagt – und deshalb bin ich weniger wert als die anderen. Oder: Ich hätte dieses und jenes tun müssen. Dann wäre ich wertvoller. 

Das Wichtigste aber fehlt: nämlich das kleine Wörtchen „und“

Versuche einmal laut zu sagen: „Ich bin durch die Prüfung gefallen, und ich bin als Mensch genauso viel wert wie vorher.“ – „Der Typ hat mir einen Korb gegeben, und ich bin als Mensch genauso viel wert wie vorher.“ – „Ich habe mich beim Vorstellungsgespräch ungeschickt verhalten, und ich bin als Mensch genauso viel wert wie vorher.“

Die Patienten, die sich ganz minderwertig fühlen, frage ich schon mal: „Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einer Säuglingsstation der Klinik. Die gab es ja früher. Dort sehen Sie zwanzig neugeborene Kinder. Einige schlafen gerade, andere dösen oder quäken. Wir haben eine Reihe gesunder und einige behinderte Kinder. Und – es sind in dieser Fantasievorstellung verschiedene Hautfarben vertreten. Welches dieser Kinder ist am meisten wert?“

Es gab noch keinen Einzigen, der bisher gesagt hätte: „Das blonde Kind mit den blauen Augen.“ Alle sagen: „Da gibt es keinen Unterschied.“ 

Okay, einen Monat später. Alle Kinder sind in ihren Familien. Wer ist jetzt am meisten wert? – Ganz wenige sagen: „Das hängt von der Schicht ab, in der das Kind jetzt zu Hause ist.“ Fast alle antworten: „Da gibt es keinen Unterschied.“

Ja, wann ändert es sich denn? Einige wenige: „Vielleicht hängt es davon ab, welche Schulform besucht wird.“ Nahezu alle antworten: „Eigentlich nie.“

Dann frage ich: „Und warum werten Sie sich dann selbst ab?“ 

Keiner zwingt Dich, diese Meinung beizubehalten. Werde also in Zukunft Deine beste Freundin, Dein bester Freund. Du bist ein ganzes Leben mit Dir zusammen.

Treffend hat das Michel de Montaigne ausgedrückt: „Auch auf dem erhabensten Thron der Welt sitzen wir nur auf unserem eigenen Hintern.“ Erst recht auf dem Örtchen, wo selbst der Kaiser zu Fuß hingeht …

Bücke Dich also nie vor einem lebenden Menschen! Denn kein Mensch ist mehr wert, als Du es bist! Du bist gesegnet.

In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp