Doping – oder: Verbrennungen der Seele

Zwischen Würde und Fremdbestimmung – Zur Psychologie der Medikamentenabhängigkeit im Sport.

Beim Durchforsten überflüssiger Papierstapel fand sich ein Artikel wieder, den ich vor über 22 Jahren zur Doping-Problematik im Sport geschrieben hatte. Er wurde in der Wochenendausgabe der Tageszeitung „Die Welt“ am 9./10. Januar 1993 veröffentlicht. Da das Thema „Doping“ und seine Auswirkungen auf den Menschen auch in der heutigen Zeit eine große Rolle spielen, ist meine damalige Analyse offensichtlich nach wie vor aktuell. Eine Annäherung an eine (Schatten-)Seite des Menschseins.

Die Zivilisationskrankheit des Sports heißt Doping. Doping ist Schlagwort und Schatten über dem Sport. Und Doping wird den modernen Hochleistungssport weiter begleiten. Das liegt einerseits in der Natur der Sache und zum zweiten in der Natur des Menschen. Wer sich einmal in diesem Dschungel verlaufen hat, der hat Mühe, wieder den Ausgang zu finden. Doping ist eine Einbahnstraße.

Die Motive und Gefahren sind immer wieder vom medizinischen Standpunkt aus beschrieben worden. Natürlich spielt aber eine bedeutende Rolle, was Schiller schon schrieb: „Von des Lebens Gütern allen ist der Ruhm das höchste doch.“

Die psychologischen Aspekte des Dopings sind bislang allerdings weitgehend unbeachtet geblieben. Denn Ruhm, Gold und Geld allein reichen als Erklärung nicht. Was treibt Sportler neben der erhofften Leistungssteigerung zum Griff zur Pille oder zur Spritze? Schließlich, wer sich einlässt auf dieses Spiel, den überzieht das Doping alsbald mit einem dichten Netz von Abhängigkeiten, mit medizinisch wie psychisch wirksamen Suchtpotentialen.

Solche Abhängigkeiten folgen sogar einer gewissen Logik: Wenn ich als Athlet auch nur einmal das Gefühl habe, dass ich den Sieg nicht mehr dem eigenen Leistungsvermögen, sondern zu gleichen Anteilen oder sogar viel eher dem Präparat verdanke, wird der Weg zurück zum sauberen Sport kaum noch gangbar. Der Sportler wird von diesem Moment an in höherer Dosierung fremdbestimmt, weil der Siegesanteil vermeintlich von außen gesteuert wird. Das Präparat suggeriert die Stärke. Und die Arznei gerät zum Fetisch und zum modernen Glücksbringer. Nun ist Doping kein Phänomen der Gegenwart. Es ist so alt wie die Menschheit selbst: Aus der Antike kennen wir Formen des Dopings bereits mit Aphrodisiaka. Und, in leicht abgewandelter Form, auch aus dem Mittelalter.

Die Rittersleute, die in den Kampf zogen, trugen – wie wir es zeitgenössischen Überlieferungen entnehmen können – häufig ein Tuch ihrer Herzensdame verdeckt bei sich. Ihr Motiv ähnelte im Grundmuster den heutigen Verhaltensweisen: Das Tuch sollte zu einer magischen Erhöhung im Kampf beitragen. Da war (und ist noch) die Hoffnung auf irgendeine treibende mystische Kraft. Denn zu den Eigenschaften des Menschen zählt seit je sein Streben, sich Kräfte und Fähigkeiten anzueignen, die ihm auf normalem Wege versagt blieben. An die Stelle des Tuches tritt im modernen Sport das Präparat.

Das Doping im Sport birgt darüber hinaus aber allerlei Reize. Den Reiz des Verbotenen einerseits, aber auch den Reiz des Risikos: Wie weit kann ich als Athlet mit der Einnahme von stimulierenden Mitteln noch an den Wettkampftermin heran? An welcher Stelle übersteigt das Risiko des Ertappt-Werdens die erhoffte Wirkung? Doping gerät mithin zum Vabanquespiel und Nervenkitzel. Dazu kommt – so paradox das klingen mag – auch eine erleichternde oder verdrängende Wirkung. Falls es beim Wettkampf doch nicht klappt, bleibt als Erklärung immer noch, dass nicht ich, sondern vielmehr das Präparat versagt hat oder die anderen sich raffinierter gedopt haben. Doping entlastet also auch von schmerzhaften Einsichten und Verantwortlichkeiten. So bleibt der gedopte Sportler – nach außen hin jedenfalls – unbeschadet auch bei Niederlagen.

Hinter alledem steht ein altes Prinzip. Der Mensch benötigt offenbar überall Additive zu seinen Bewusstseinszuständen, weil ihm ansonsten die Welt einfach zu groß und komplex erscheint. Für den Sport heißt das: Niederlagen pur sind für viele gar nicht zu ertragen.

Seit allen Zeiten versuchen wir, dem eigenen Selbstvertrauen eine weitere, erhebende Kraft hinzuzufügen – in der Moderne geschieht dies eben mittels der Chemie. Und spätestens hier ist der Grat erreicht zwischen Fremdbestimmung (Doping) und der Würde des Menschen: Durch Doping wird die Eigenverantwortlichkeit reduziert. Während ich mir zum Beispiel beim mentalen Training Ressourcen erarbeite, die ohnehin in mir schlummern, erschließt Doping Felder, die nicht zu den normalen Möglichkeiten zählen, also unnatürliche Quellen.

Beim Doping gebe ich mithin den Selbsterfahrungseffekt, die tiefe Berührung mit mir selbst, an der Garderobe ab – und damit zugleich ein Stück der persönlichen Würde. Das ist der Kernpunkt der psychologischen Seite. Ich betrüge durch die Einnahme von Doping-Substanzen andere. Vor allem aber betrüge ich mich selbst. Schließlich, eine konzentrierte Wahrheit – und sei es selbst durch schwächere Ergebnisse – bedeutet immer noch eine vollkommen andere Befriedigung als eine Leistung mit einem geborgten Anteil Chemie. Ein sauberer Sportler wird nach dieser Logik stets größere Zufriedenheit verspüren.

Wie sagte doch Olympia-Sieger Dieter Baumann in einem Interview: „Für mich persönlich käme es nicht in Frage. Wenn ich mit Doping deutschen Rekord laufen würde, dann müsste ich mich mehr bei meinem Arzt bedanken als bei meinem Trainer oder bei mir. Und das würde mich stören. Deshalb dope ich mich nicht. (Wir wissen heute, durch spätere Erkenntnisse zum „Fall“ Dieter Baumann, dass auch diese Aussage fragwürdig war. Der 5.000-m-Olympiasieger von 1992 in Barcelona wurde im Zuge der „Zahnpasta-Affäre“ zwischen September 2000 und Januar 2002 gesperrt, bestreitet jedoch bis heute die wissentliche Einnahme von Doping und gilt als engagierter Gegner des Dopings.)

Zu Doping-Mitteln dagegen greifen jene, die einen Mangel in sich spüren und den zu überbrücken hoffen. Ben Johnson mag so gedacht haben. Das Vertrauen in die eigenen Reserven reichte offenbar nicht aus. Diesen Mangel glich er mit anabolen Steroiden aus. (Der kanadische Sprinter Ben Johnson wurde bei den Olympischen Spielen 1988 in Soul zwei Tage nach seinem „Jahrhundertlauf“ des Dopings überführt.)

Gerade sein Fall zeigt, dass Sportler lernen sollten, wieder in eine vernünftige Balance zu kommen. Weg von diesen Abhängigkeiten und hin zum Gleichklang von Körper, Geist und Seele.

Setze ich allein auf meine Fähigkeiten, meinen Willen und meinen Glauben an mich selbst, kommt der – nennen wir es einmal so – Turbo-Effekt oft von allein. Der Grieche Demostenes redete gegen die Wellen an, um auf diese Weise einen Sprachfehler zu bekämpfen. Er wurde später der berühmteste Redner seines Zeitalters.

Ähnliche Beispiele, bei denen sich Schwäche in ungeahnte Stärke verkehrte, finden wir in der Neuzeit – und dort ganz besonders im Sport. Der amerikanische Hammerwerfer Harold Conolly gewann 1956 bei den olympischen Sommerspielen von Melbourne Gold trotz – und ich behaupte gerade wegen – einer Behinderung. Der Mann hatte nach einem Unfall einen verkürzten rechten Arm zurückbehalten – und siegte dennoch.

Noch bekannter ist der Fall der Sprinterin Wilma Rudolph, die als Kind gelähmt war und 1960 in Rom drei Goldmedaillen in den Sprintdisziplinen gewann. Sie, die jahrelang unfähig war zu gehen, lief vor den Augen der Sportwelt gazellenhaft leicht und elegant.

Diese beiden Athleten errangen Siege zunächst über sich selbst, Siege für die persönliche Würde. Fast vergessen, aber so geht es eben auch. Mit Willenskraft, mit natürlichen Reserven. Und dem unerschütterlichen Glauben an sich selbst.

Das andere Extrem lautet: Ich bin bereit, dem nackten Siegeswillen, dem Ruhm, dem Gold und dem Geld alles unterzuordnen, Abhängigkeiten einzukalkulieren und körperliche Gefahren für Hundertstelsekunden und Zentimeter in Kauf zu nehmen. Was ist von der Natur übrig geblieben, wo der Mensch nach dieser rücksichtslosen Prämisse verfuhr? Verbrannte Erde.

Übertragen auf den Sport ist das nicht anders. Der gedopte Sportler ist hier selbst die „verbrannte Erde“. Denn Doping führt zwangsläufig zu Verbrennungen der Seele und der Persönlichkeit.

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp