Wie wichtig ist Freundschaft? Dr. Peseschkian, ein persischer Arzt und Psychotherapeut (verstorben am 27. April 2010), zeigte gestressten Managern gerne eine Zeichnung mit einem Kreuz und den entsprechenden vier Polen, die stehen
- für Körper und Geist,
- für Arbeit und Erfolg,
- für Familie und
Freundschaften, und - für den Sinn, also Religion,
Kunst, Musik und Philosophie.
Die Aufgabe lautete, das gesamte eigene Energiepotential von 100 % realistisch auf diese vier Bereiche aufzuteilen. Herausgekommen ist im Durchschnitt aller befragten Manager: Ein Energieeinsatz für Körper und Geist von 10% („man spielt ja regelmäßig Tennis oder Golf“), für Arbeit und Erfolg 75%, für Familie und Freunde 5-15% und für Sinn 0 bis 10%.
Für Familie und Freundschaft, für Sinn, Kultur und Philosophie kamen also im Durchschnitt gerade einmal 15 % Motivation und Energieeinsatz zusammen. Sind Freundschaft und Sinn so wenig gefragt?
Kaum jemand bestreitet den Wert einer langjährigen Freundschaft. Und doch scheint es immer schwieriger zu werden, Freunde fürs Leben zu finden. Es gibt Umfragen, die belegen, dass – unabhängig von Geschlecht und Alter – ein Drittel aller Deutschen aussagt, keinen Freund zu haben. Konzentriert man die Umfragen auf die Gruppe der erwachsenen Männer, so erhält man ein noch erstaunlicheres Ergebnis: Zwei Drittel der deutschen Männer haben keinen einzigen guten Freund! Dafür muss es ja Gründe geben.
Ich denke, jeder von uns spürt, dass unsere Zeit sehr schnelllebig und chaotisch geworden ist. Werte verändern sich. Das Neue wird immer schneller neu. Die „gute, alte Erfahrung“ reicht zur Lebensbewältigung nicht mehr aus. Wir müssen uns also immer komplexeren Herausforderungen stellen, die unsere Zeit und Energie in hohem Maße beanspruchen.
Kürzlich sagte mir ein Bekannter: „Wir sind zu müde für Freundschaften. Früher ging man weite Wege, danach verabredete man sich per Anrufbeantworter, und heute in sozialen Netzwerken.“ Freundschaft leidet demnach auch unter der Mobilität, die unsere heutige Zeit zunehmend erfordert. Wer kann noch so leben wie jener Bauer im Westerwald, im 250-Seelen-Dorf, der in seinen siebzig arbeitsreichen Jahren nicht über einen Radius von 15 Kilometern hinausgekommen war: 4 Kilometer bis zur Kirche, und 15 Kilometer bis zur nächsten Kreisstadt. Ich habe ihn einmal gefragt, ob er denn nicht wenigstens mal in Köln gewesen sei. Seine Antwort: „Ich geh doch nicht aus der Welt!“
In der sozialen Struktur seines Dorfes fand er Akzeptanz und Freundschaft zwischen Dorfplatz, Kneipe und Freiwilliger Feuerwehr.
Unvorstellbar für uns Städter. Unvorstellbar für den „Weltstädter“ von heute und morgen. Erst recht für den Manager zwischen Zeitplanbuch, Flughafen und Time-lag.
Charakteristisch für den sogenannten „modernen“ Menschen ist auch der Hang zu vielen verschiedenen „Funktionsträgern“ statt eines Freundes/einer Freundin, mit denen man die Erfahrungen des ganzen Lebens teilt. So trifft man sich mit Ernst beim Sport, geht mit Hans zur Volkshochschule und mit Jutta ins Theater. Es scheint so, dass wir Unverbindlichkeit und Distanz höher schätzen als die Fähigkeit, Nähe herzustellen.
Wenn Sie mit Ihrem Auto um Mitternacht 20 Kilometer vor Köln liegenbleiben würden, fragen Sie sich doch einmal selbst: Hätten Sie jemanden, den Sie weckten und der Sie dort abholen würde? Damit meine ich nicht den ADAC. – Ein Freund macht sich auf den Weg…
Freundschaft ist ein ganzheitliches Konzept. Freundschaft braucht Freiraum zur Entwicklung, braucht Zeit und Pflege. Vielleicht haben Sie auch schon die Erfahrung gemacht: Echte Freundschaften können durch räumliche Trennung sogar jahrelang ruhen – und bleiben dennoch bestehen. Schon beim ersten Kontakt ist es sofort wieder da – dieses Gefühl, als hätte man sich nie aus den Augen verloren.
Ein weiteres Kriterium für Freundschaft: Freunde halten nicht mit ihrer Meinung hinter dem Berg, auch nicht mit ehrlicher Kritik. Dafür sind sie eben Freunde. Mit einem Freund kann man allen Kummer teilen, aber auch jeden Sieg feiern. Ein Freund ist für einen da, wenn alle anderen sich abgewandt haben – und erst recht, wenn man strahlend im Mittelpunkt steht.
Freundschaft ist allerdings nichts für Spekulanten. Die Investition in eine Freundschaft tätigt man ohne Garantie auf Rendite! Wer sich fragt: Was könnte mir diese Freundschaft bringen? – kann schon kein Freund mehr sein.
Freundschaft lebt allerdings von einer Voraussetzung: Nur derjenige kann Freund sein, der sich selbst zum Freund hat! Wer sich selbst nicht mag, mag auch keinen anderen vorurteilsfrei. (Vielleicht will er ihn „besitzen“, aber er mag ihn nicht wirklich.)
Wie heißt es doch schon in der Bibel: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ Sich selbst freundlich behandeln ist also die Basis. Und das ist heute nicht einfach.
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp
Teil 3 folgt.