Wie Gefühle entstehen oder: Was wir von den Stoikern lernen können

Das scheint doch ziemlich klar zu sein. Wenn mich jemand beleidigt, bin ich verletzt. Wenn ich gelobt werde, freut mich das. Wenn in China ein Sack Reis umfällt, lässt mich das kalt.

Gefühle in mir entstehen anscheinend durch bestimmte Personen oder äußere Ereignisse. Von außen eben. Davon gehen die meisten Menschen aus.

Ja, dann kann man in der Tat nichts machen. Dann sind Gefühle eben Produkte der Außenwelt. Wir können uns nicht selber steuern, sind somit den Verhaltensweisen und dem Wohlwollen unserer Umwelt völlig ausgesetzt.

Wenn Du jetzt denkst: „Das kann doch wohl nicht wahr sein?!“ … dann liegst Du richtig. Es ist genau andersherum.

Wenn A zu B sagt: „Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank!“ hat diese Aussage niemals unmittelbare Auswirkungen auf das Gefühl von B. Warum?

Vorher finden zwei Prozesse statt:

B muss die Aussage von A erst einmal wahrnehmen.
Also hören, was A gesagt hat. Ist B taub, muss er bzw. sie die Bemerkung von den Lippen ablesen können.

Wenn Du in Kanada in Urlaub bist, und hinter Dir steht ein Grizzly-Bär, den Du nicht wahrgenommen hast, hast Du keine Angst. Wenn Du aber weißt, wie Grizzly-Bären riechen – und Du bekommst einen gewissen Geruch in die Nase … dann …

Was gehört also dazu, ein Gefühl zu entwickeln?

Du musst auf irgendeinem Sinneskanal etwas Bestimmtes wahrnehmen.

Das aber löst immer noch kein Gefühl aus. Es fehlt nämlich noch eine wichtige, zweite Komponente.

Hierzu ein Beispiel:

Wenn Du einem kleinen Kind, altersentsprechend, eine Lichtquelle zeigst, und dieses Zeigen mit dem Wort „Lampe“ verbindest, wird es in kurzer Zeit zu vergleichbaren Gegenständen auch sagen: „Lampe“.

Warum? Es assoziiert. Es bewertet.

Diese Bewertung ist Teil eines kognitiven, mentalen Prozesses: Das, was ich wahrnehme, formt sich in meinem Kopf, in meinem Verstand, zu einer von mir so gesehenen Geschichte.

Jeder kennt das Beispiel von der halbgefüllten Flasche: Ist sie noch halbvoll – oder schon halbleer? Was ist sie tatsächlich? – Sie bleibt halbgefüllt. Ob ich sie als „halbvoll“ oder als „halbleer“ betrachte, ist Folge meiner Bewertung.

Das, was ich über eine Situation, über eine Aussage, über ein Ereignis denkedas entscheidet über das Gefühl, das ich in Bruchteilen einer Sekunde später in mir empfinde.

Woher kommen die unterschiedlichen Bewertungen?

Jeder Mensch ist anders – und denkt anders. Die Art und Weise, wie ich über bestimmte Dinge denke, wird von meiner eigenen Lebensgeschichte beeinflusst – und davon, wie ich mich heute, jetzt, in diesem Augenblick, fühle: Kann ich heute Bäume ausreißen? Oder fühle ich mich schlapp und ausgelaugt? Wirken sich Medikamente aus, habe ich Alkohol getrunken, ist mein Biorhythmus oben oder unten? Stehe ich eine Woche im Dauerregen oder tanke Licht und Wärme?

Was alles auf mich einströmt, beeinflusst ebenfalls meine Gedanken über die momentane Situation, in der ich mich befinde.

Wenn A also sagt: „Du hast nicht alle Tassen im Schrank!“ … und mir schießt möglicherweise – ganz unbewusst – mein Vater durch den Kopf, der, als ich Kind war, mit erhobenem Zeigefinger vor mir stand und wütend ausrief: „Bist Du noch recht bei Trost?!“ … dann spürst Du wahrscheinlich unmittelbar dieses flaue Gefühl im Magen – so, wie damals.

Wirklich „unmittelbar“?

Nicht wirklich: Du entscheidest über die Art und Weise, wie Du jetzt, in diesem Moment, über Deine damalige Situation denkst – und was Du jetzt, in diesem Augenblick, über die Person A denkst. Deine Entscheidung, wie Du jetzt, in diesen Sekundenbruchteilen, bewusst und unbewusst denkst, damit – und nur damit – löst Du Dein Gefühl in diesem Augenblick aus.

Das heißt also: Du – und nur Du – bist der Meister Deiner Gefühle. Du entscheidest, ob Du Dich jetzt gut oder schlecht fühlst. Denn Dein Gefühl ist Ausdruck Deiner Bewertung, Deiner Sichtweise der Dinge.

Das klingt hart. Denn es lässt keinen Ausweg zu, den anderen Menschen, die Umstände, die Politiker, die Religionsgelehrten oder den Nachbarn für Deine Gefühle verantwortlich zu machen. Wenn das so wäre, wärest Du das Opfer. Das mag bequem sein, aber: Willst Du wirklich „Opfer“ sein? Oder willst Du Dein Leben, willst Du Deine Gefühle, Deine Sichtweise der Welt, selber bestimmen?

Sei Dir bewusst: Alles, was Du fühlst, geht durch den Filter Deines Denkens, Deiner inneren Selbstgespräche.

Es gibt nur wenige Ausnahmen:

Wenn Du mit nackten Füßen in eine Glasscherbe trittst, hast Du ein Schmerzgefühl, ohne vorher gedacht zu haben.

Wenn Du Dir harte Drogen einwirfst, hast Du bestimmte Gefühle, möglicherweise den „Horrortrip“, ohne vorher Entsprechendes zu denken.

Wenn Du in einer endogenen Depression steckst, die durch Stoffwechselstörungen, das heißt durch Substanzverluste im Gehirn, zustande kommt, kannst Du Dich auf einen Schlag niedergeschmettert fühlen, ohne vorher etwas Negatives gedacht zu haben.

Aber – in fast allen anderen Fällen ist Deine Art des geistigen Umgangs mit den Dingen des Lebens entscheidend für das Gefühl, das Du wählst.

Ja, Du wählst Dein Gefühl. Spürst Du, welche Macht Du hast?

Früher war es allgemeiner Sprachgebrauch, von einem Menschen, der ganz in sich gesammelt war, zu sagen: „Der hat eine stoische Ruhe.“ Junge Leute kennen den Begriff heute kaum noch.

Die „stoische Ruhe“ kommt von den Stoikern. So hießen die Mitglieder einer Philosophenschule, der Stoa, die ca. 300 vor unserer Zeitrechnung in Athen gegründet wurde, ihre größte Ausstrahlung aber in Rom zur Zeit um Christi Geburt besaß. Bekannte Stoiker waren Marc Aurel, Seneca,
Epiktet und andere.

Die Stoiker legten großen Wert darauf, ihr Leben selbst zu bestimmen. Das heißt also auch, für ihre eigenen Gefühle verantwortlich zu sein.

So brachten sie beispielsweise ihren Kindern schon frühzeitig bei, dass jeder Mensch über sie denken könne, was er wolle. Wenn Du aber – quasi mit der Muttermilch – schon jedem anderen die Freiheit gibst, über Dich denken zu können, was er will … was geschieht dann, wenn später jemand
zu Dir sagt: „Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank!“?

Jeder kann über Dich denken, was er will! Also kannst Du freundlich bleiben und, wenn es Dich
interessiert, lächelnd erwidern: „Mein Freund, dann sag mir mal: wieso?“

Der Stoiker Marc Aurel sagte: „Die Welt ist das, was unsere Gedanken aus ihr machen.“ So, wie Du denkst, wirst Du Dich fühlen. Es steht Dir frei.

Dies ist allerdings kein Plädoyer für das oft propagierte „positive Denken“.

Positives Denken hat nur dann Sinn, wenn Du wirklich im tiefsten Inneren von dem überzeugt bist,
was Du denkst. Es wird Dir nichts nützen, zu denken: „Ich fühl mich von Tag zu Tag immer besser und besser,“ wenn Du Dich gleichzeitig alt und ausgebrannt fühlst. Entscheidend ist immer, ob Du
wirklich daran glaubst, was Du denkst. Im Englischen spricht man von „beliefs“, von Gedanken, an die ich glaube.

Die Stoiker haben es uns vorgelebt: Für die Gelassenheit und Ruhe im Augenblick, für die Annahme dieses Lebens, für das Gefühl, mit dem wir jeden Morgen aufstehen und uns durch den Tag bewegen, sind weitestgehend wir selbst verantwortlich. Das macht uns so reich an Einflussmöglichkeiten über uns und unser Leben.

Natürlich sind die Zeiten heute andere als zur Blütezeit der Stoa. Aber dennoch: Warum sollten wir die Macht über unsere Gefühle aus der Hand geben, wenn wir sie durch unser Denken beeinflussen und steuern können?

Ein chinesisches Sprichwort besagt:

„Dass die Vögel der Sorge und des Kummers über Deinem Haupt
fliegen, kannst Du nicht ändern.
Doch kannst Du verhindern, dass sie Nester in Deinem Haar
bauen.“

In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp