brown tree trunk

Gudula

Einverstanden mit dem Scheitern 

„Risiko“ gibt’s täglich im Fernsehen. Bei vielen Ratesendungen kannst Du ins Risiko gehen. Dann hast Du die Chance, viel zu gewinnen. Oder alles zu verlieren. Risiko eben … 

Auch im alltäglichen Leben gibt es jede Menge Risiken. Wer 2008 an der Börse spekuliert hat, verlor durch die Pleite von Lehman Brothersviel Geld. Gudula, eine ältere Freundin von uns, bekam das hautnah zu spüren. 

Auf Anraten einer deutschen Bank legte ihr Mann die ganze Altersvorsorge der beiden bei Lehman Brothers an. Dann kam der Oktober 2008 – und so gut wie nichts blieb übrig.

Das Risiko hatte Auswirkungen: Anfang des Krisenmonats lebten beide in einer 120 Quadratmeter großen Wohnung mit Kamin und riesigem Balkon in unserer Innenstadt und blickten in die ausladende Krone eines majestätischen Baumes. 

Im November, unmittelbar nach der weltweiten Erschütterung durch die Bankenkrise, zogen sie zwei Stockwerke tiefer in eine halb so große Wohnung – und schauen jetzt nur noch auf den breiten Stamm. So spielt manchmal das Schicksal. 

Unsere über 80-jährige Freundin geht übrigens großartig mit dieser Situation um: Sie jammert nie. Sie feiert das Leben. Nicht nur ab und zu, sondern jeden Tag. „Ich habe geübt“, sagt sie, „im Hier und Jetzt zu sein. Deshalb gelingt mir das so gut.“

Nun schreibe ich das alles nicht, um vor Risiken zu warnen. Im Gegenteil. Kennst Du Menschen, die immer auf „Nummer sicher“ gehen? „Da gehe ich lieber auf Nummer sicher!“, sagen sie. 

„Nummer sicher“ – woher stammt eigentlich dieser Begriff? 

Die Redewendung „auf Nummer sicher gehen“ bedeutet ursprünglich „auf Nummer sicher sitzen“. Die „Nummern sicher“ verweisen auf die Gefängniszellen einer Haftanstalt. Die Zellen wurden nummeriert und die Bösewichte dahinter waren – in aller Regel – sicher verwahrt. Da lag es auf der Hand, die beiden Wörter „Nummer“ und „sicher“ zusammenzuziehen, und aus der Gefängniszelle wurde somit die „Nummer sicher“.

Es ist in der Tat so: Viele Menschen möchten ihre Angst und Unsicherheit durch Vergewisserung und Kontrolle überwinden. Sie glauben, dass sie erst dann freier leben können. Kontrolle aber hält fest, verschließt, verkrampft, macht eng und misstrauisch. Vergewisserung und Sicherheit („auf Nummer sicher gehen“) öffnen sich demnach nicht dem Neuen, führen nicht in die Weite, sondern buchstäblich in die Enge. Heitere Gelassenheit kann nur in Freiräumen entstehen. 

Wie sagte unser verstorbener Mentor Dr. Wolf Büntig: „Sicherheit ist der Gegenpol zur Lebendigkeit.Ein Übermaß an Sicherheit verhindert gutes Leben.“ Und erzählt als Beispiel: „Die absolute Sicherheit ist zwei Meter lang, sechzig Zentimeter breit und vierzig Zentimeter hoch – und je nach Portemonnaie in Eiche oder Fichte/Tanne. Todsicher.“

Und der Gegenpol? „Das ist der Surfer in Kalifornien“, schmunzelte er, „der drei Jahre über flachere Wellen gepaddelt ist, um einmal in seinem Leben die große Welle zu erleben und auf ihr zu reiten. Seine größte Angst ist nicht, von der ‚Big Wave‘ auf den Strandkies geworfen zu werden, sondern die perfekte Welle zu verpassen und wieder drei Jahre warten zu müssen.“ Und ergänzte: „Zwischen todsicher und extremem Risiko – irgendwo auf dieser Linie spielt sich unser Leben ab.“ 

Fünf Jahre später. Ich lese Gudula diese Geschichte vor. Sie lächelt. „Weißt Du“, sagt sie, „aus dem Stamm, auf den ich schaue, sind mittlerweile Äste gewachsen. Heute habe ich eine große Freude an den Blättern.“ Und fährt fort: „Der Baumstamm ist für mich jetzt mehr als ein Stamm. Da ist Leben pur. Ich erfreue mich an der Veränderung.“ Und, nach einer kleinen Pause, in der sie in sich hineinhorcht: „Ich vermisse die Krone nicht mehr“, sagt sie leise. „Mir wurde Leben geschenkt. Die Hoffnung ist mitgewachsen.“

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp