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Mein erster Flug

Heute, am 1. Juni 2023, werde ich 75 Jahre. Alt? Jung? 

Manches Mal erscheint mir das wie ein Wunder. Mein Leben hätte auch früher enden können. Sogar mehrfach. Die erste „Prüfung“ hatte ich mit dreizehn Jahren zu bestehen. 

Es war mein erster Flug mit den Eltern an Ostern 1962 nach Mallorca. Die Baleareninsel führte damals noch ein recht überschaubares und verträumtes Leben. Touristisch völlig unerschlossen, prägten die Fischerboote das Bild an den Stränden rund um die Hauptstadt Palma de Mallorca. Am späten Nachmittag sah ich die Fischer am langen Sandstrand sitzen, und in aller Gemütsruhe ihre beim Fang gerissenen Netze flicken.

1962 war in El Arenal die dekadente Entwicklung zum „Ballermann“ nicht mal in Ansätzen spürbar. Ein einziges Hotel mit einem mauerumrandeten Tennisplatz war auf den touristischen Verbleib ausgerichtet. Wir blieben die einzigen Gäste.

Es war die Lebensphase, in der ich begann, Edgar-Wallace-Krimis in Taschenbuchform zu verschlingen. Jeden Morgen lief ich von El Arenal aus den Strand entlang zum einzigen Kiosk am Küstenstreifen der Hauptstadt, um mir den nächsten Wallace-Krimi zu kaufen. Sie wurden damals für die Kinos verfilmt, aber erst ab sechzehn Jahren freigegeben. Also blieb mir nur das Lesen – und die Filme in meinem Kopf. 

Aber zurück zum damals jungen Leben und dem möglichen raschen Ende: Man flog Anfang der 1960er Jahre mit Propellermaschinen. Für Luftfahrtinteressierte: Es war eine Fokker F.27 Friendship aus den Anfängen der LTU. Auf dem Flughafen Düsseldorf-Lohausen im April 1962. 49 Passagiere fanden Platz. Handgepäckstücke wurden in den oberen Netzen verstaut.

Pünktlich hob die Propellermaschine ab, flog einem neuen Abenteuer entgegen. Alle Mitreisenden blieben angeschnallt – was noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Von Norden kommend, waren die mallorquinischen Berge schon zu erkennen, als es im Landeanflug passierte … Erste Turbulenzen – und die Maschine stürzte schlagartig senkrecht abwärts. Dann – ein gewaltiger Aufprall auf der Luft! – Wie kann man auf Luft aufprallen? – Beine flogen in die Höhe, das Gepäck schleuderte an die Decke … und fiel polternd zu Boden. Und durch die Schreie mancher Passagiere wurde mir schlagartig bewusst: Angst! Panik! Wir stürzen ab!

Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich, wie sich nackte Angst anfühlt. Die Angst in der Brust, wenn es so eng wird, dass der Atem stockt. 

In diesen Sekunden, nachdem wir Hunderte von Metern wie ein Stein in die Tiefe gefallen waren, konfrontierte mich das Leben mit diffusen Gedanken an ein Ende. An mein Ende. Fühlbar war der Brustbereich starr ummantelt, wie in Ketten gelegt, gelähmt und verpanzert. Alle Energien wie in einem schwarzen Loch zusammengezogen. 

Den Aufprall auf der Luft überstanden wir unverletzt, weil wir angeschnallt waren. Dieses Glück hatte eine Stewardess nicht. Durch die Wucht des Aufschlags flog sie gegen die Decke des Flugzeugs und erlitt einen Schädelbasisbruch. Genau so war es.

Nach dem Aufprall auf der Luft drückten uns die Fallwinde ein zweites Mal in die Tiefe. Die Fokker war zum Spielball eines Tornados geworden. Keiner wusste vom Landeverbot. Denn der Tower des Flughafens hatte vergessen, das Verbot an die Crew weiterzuleiten. 

Ich erinnere mich an keinen klaren Gedanken, bis es dem Piloten gelang, die Maschine aus dem Auge des Tornados herauszureißen. Circa 500 Meter über dem Boden. 

Im Rückspiegel betrachtet, ist mir klar geworden: Leben ist keine Selbstverständlichkeit. Wir haben keinen Anspruch darauf. Aber es ist ein wundervolles Gut. Ein wertvolles Geschenk. Ein tägliches Wunder. Ein Anlass für immerwährende Dankbarkeit. 

Ich darf heute 75 Lebensjahre werden. Weil uns 500 Meter vom Aufprall in den Bergen trennten. 

Der Rückflug gelang dann ohne Turbulenzen, Tornados und Fallwinde. Und mit mindestens zehn verschlungenen Edgar-Wallace-Krimis im Gepäck.

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp