crop ethnic female consultant talking to client and taking notes

Mein Geheimnis

oder: Verrückte Therapiemethoden

Du ahnst es nicht! Aber in meiner Praxis gibt es ein großes Geheimnis. Es ist ein runder Gegenstand, der gut verborgen in meiner Schreibtischschublade liegt. Ziemlich weit hinten. Nur bei ganz besonderen Anlässen hole ich ihn heraus. 

Was solche Situationen sind? Wenn Patienten nicht bereit sind mitzuarbeiten. Das ist selten, kommt aber vor. Oder wenn sie sich für den Nabel der Welt halten. Für das größte Genie oder den tollsten Typen des Universums. Wenn sich alles nur um sie dreht. Dann kann es sein, dass ich während unseres Dialogs langsam aus der Gesprächsecke aufstehe, plaudernd zum Schreibtisch schlendere … und dieses Ding raushole. 

Ich setze mich dann, so ganz nebenbei, wieder hin und spreche weiter, als wäre nichts geschehen. Gerade diese Belanglosigkeit unterstreicht die Bedeutung meines Geheimnisses. Davon konnte Paul (Name geändert) ein Lied singen.

„Ich war schon bei einigen Therapeuten“, begann er das Gespräch. „Da hatte ich immer das Gefühl, dass ich mehr weiß als die.“ Der jüngere Patient, gegen Ende zwanzig, klärte mich auf. Er habe ja auch Wochenendseminare und Workshops besucht und wäre fit im NLP. Das ist das neurolinguistische Programmieren. Muss man aber nicht wissen. Studieren würde er Maschinenbau. 

Lässig saß er mir gegenüber. Fühlte sich scheinbar überlegen. ‚So möchte er wirken‘, dachte ich mir. „Ja, wenn Sie mehr wissen als die Kolleginnen und Kollegen … warum sind Sie dann hier?“ Diese Frage schien mir logisch. 

Er gebe doch die Hoffnung nicht auf. Er habe seltsamerweise manchmal Durchhänger und wenig Freude am Leben. Deshalb habe er ja auch die Psychologiekurse besucht. 

„Gut“, meinte ich bestätigend. Und: „Kann es nicht sein, dass Sie tatsächlich besser sind als alle Therapeuten?“ Mit dieser Frage hatte er wohl nicht gerechnet. Irgendwie war er irritiert. Oder verblüfft. 

„Wissen Sie“, fuhr ich fort, „es ist doch überhaupt nicht gesagt, dass ein jahrelanges Studium mit anschließender intensiver therapeutischer Ausbildung zu einem größeren psychologischen Wissen führt. Wenn man zu viel gelernt hat, ist man vielleicht sogar schneller verwirrt.“ Und: „Es kann doch keiner wissenschaftlich widerlegen, dass Sie nicht sogar der beste Therapeut der Welt sind!“

Paul rutschte langsam, aber stetig aus seiner raumgreifenden Körperhaltung heraus. Sackte ein Stück in sich zusammen. 

Nun kam mein Geheimnis ins Spiel. Mit der Frage „Haben Sie schon im Internet recherchiert? Vielleicht sind Sie dort ja als komplettester Therapeut gelistet!“, öffnete ich meine Schreibtischschublade – und fingerte eine rote Clownsnase hervor. Und mit der Bemerkung „Vielleicht haben Sie bei Facebook ja unendlich viele Likes!“ setzte ich sie auf – und mich wieder locker hin. 

Paul war wie hypnotisiert. Er konnte seinen Blick nicht von der Schaumstoffknubbelnase lösen. Wie von außen gelenkt sackte er im Sessel immer tiefer. Runter in die Waagerechte. Völlig sprachlos. Ich lächelte ihn an und redete weiter.

Als ich nach einigen Minuten meine Clownsnase abnahm, ließ seine Irritation langsam nach. Er stemmte seine Hände in die Sitzfläche und hievte seinen Körper wieder hoch. – „Setzen wir unseren Wettbewerb, wer der bessere Therapeut ist, fort? Oder begegnen wir uns auf Augenhöhe?“ – „Auf Augenhöhe …“ Paul schien erleichtert. Die rote Schaumstoffnase verschwand wieder in den Tiefen meiner Schreibtischschublade. 

Den „Trick“ mit der Clownsnase erklärte ich ihm später. Dass ich mir selbst damit Freude mache, wenn ich mich nicht ernst genommen fühle. Und dass es eine gute Verwirrtechnik sei. Provokativ, aber heilsam.

Gegen Ende der Therapie lachte Paul. Zwei Jahre dauerte sie. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der ich am Beginn zu dieser roten Nase gegriffen hätte, wäre auch für ihn ein Zeichen gewesen, das Leben nicht mehr so ernst – und sich selbst nicht mehr so wichtig zu nehmen. Und die Workshops könnten ja doch kein langes Studium ersetzen.

Was er denn gelernt habe, fragte ich ihn in unserer letzten Stunde. „Meine Macho-Rolle aufzugeben,“ entgegnete er. Am eindrücklichsten sei dabei der „Nasentrick“ gewesen. Er hätte jetzt auch immer eine Clownsnase griffbereit im Auto liegen. „Wenn ich mich über einen Sonntagsfahrer ärgere … oder über einen Drängler …“, Paul zog seine Augenbrauen nach oben …, „dann setze ich mir beim Fahren schnell mal den Knubbel auf. Da fühle ich mich direkt besser!“ Und lachte. „Die zwei Euro für die Nase sind gut angelegtes Geld!“, schob er noch hinterher. Für mehr Freude im Leben allemal …

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp