Was ist stärker: Licht oder Dunkelheit?

Teil 1 — Die Dunkelbar

Kannst Du Dir vorstellen, wie ein Raum auf Dich wirkt, in dem es vollkommen dunkel ist? Stell Dir vor, Du siehst nichts. Du siehst nicht, wo Du stehst, Du siehst nichts um Dich herum. Keine Ausmaße und Dimensionen, keine Flächen und keine Winkel des Raumes. Alles schwarz. Viel schwärzer als die Nacht.

Wie verhältst Du Dich hier? Und wie geht es Deiner Seele?

Ich habe schon vor längerer Zeit, um die Jahrtausendwende, einen solchen Raum besucht. Es war eine DunkelBar. Sie wurde damals von einer blinden Frau und einem blinden Mann geleitet, die Dich an der Tür – wo Du gerade noch schemenhaft sehen konntest – abholten, Dich an die Hand nahmen, um Dich im finstersten Schwarz Deines Lebens zur Theke zu führen. 

So stehst Du jetzt buchstäblich „im Dunkeln“. Keine Ritze, durch die das Tageslicht fällt. Keinerlei Restlicht.

„Was möchten Sie trinken?“– Natürlich gibt es keine Getränkekarte, denn die wäre ja nicht lesbar, so dass ich leicht unsicher zurückfrage: „Was haben Sie denn im Angebot?“

„Sie können Kaffee haben, Cappuccino, Tee, Kakao. Zwölf Fruchtsäfte und Wasser. Irish Coffee, Rüdesheimer. Wir können Ihnen aber auch einen Cocktail mixen, mit oder ohne Alkohol.“

Ich bestelle einen Cocktail – zur Feier des Tages mit Alkohol –, höre die Schritte der Bedienung, die Entnahme von Flaschen … ob aus dem Kühlschrank, weiß ich nicht, sehe ich nicht. Selbst aus der Kaffeemaschine scheint das Glühbirnchen entfernt.

Es gluckert, dann scheppert es leicht … Mixgeräusche. Die Bedienung serviert unsichtbar.

Kannst Du Dir vorstellen, wie langsam und vorsichtig Deine Bewegungen werden beim Griff nach dem Glas? Wie Du langsam auf die anderen Sinne umstellst, weil die Augen nicht … Halt, wonach riecht es eigentlich? Welche Geräusche hörst Du? Dringt ein Schall von außen nach innen? 

Da! Du hörst einen anderen Gast, er rührt in einem Kaffee, oder? Wie viele Gäste mögen im Raum sein?

Ich sauge am Strohhalm, bis … Was trinke ich hier eigentlich? Einen Cocktail, ja, aber was ist drin? Ich schmecke Zitroniges, Frisches, aber auch Exotisches … Süß? Nein, eher herb. Es ist faszinierend. Eine ganz besondere Achtsamkeitsübung.

Gefühlte halbe Stunde später … „Ich möchte zahlen!“, rufe ich ins Dunkel. „Cocktail mit … macht sechs Mark zwanzig.“ – „Sieben!“, runde ich auf. 

Es bleibt finster. So beginnt die Suche nach einem Zehnmarkschein, im Dunkeln, in einer Börse, in der die Scheine nicht geordnet sind, deren Ausmaße ich ja gar nicht kenne. Scheine rausholen, aufeinanderlegen, vergleichen, Ecken betasten, Längen abschätzen … Zweitkleinstes Format? – Ich bekomme Wechselgeld heraus. Drei Münzen. Hat also gepasst … 

Auf der einen Seite entwickelst Du mehr Gefühl, lernst Deine Sinne ganz anders kennen. Auf der anderen Seite spürst Du eine große Dankbarkeit für Dein Augenlicht. Schön, dass Du es hast. Selbstverständlich ist es nicht.

Im Reich der Finsternis gehen uns viele Lichter auf.

In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp