Verhüllte Fläche

Volltreffer. Da hatte der Wetterbericht aber zu hundert Prozent Recht. Schneeverwehungen am flachen Niederrhein. Heute, am 7. Februar. Alles weiß. Die Beine der Holzstühle draußen auf der Terrasse sind allerdings noch gut zu erkennen. Da findet der Schnee keinen Zugriff.

Fast waagerecht treibt der böige Wind die winzigen Flocken vor sich her. Er bläst unangenehm ums Eck. Immer wieder scheren einzelne Eiskristalle aus der getriebenen Masse aus und fallen – Flöckchen für Flöckchen – vor unserem Fenster nieder. ‚Geschafft!‘, scheinen sie mir zuzurufen. Und: ‚Hatte keine Lust mehr auf die ständige Hektik. Ich ruh mich hier schon mal aus.‘ 

Unser Brunnen, dieser große Kegel am Ende des Gartens, ist zum Zuckerhut mutiert. Kein Tier traut sich vor die Tür. Keine Zeichen und Abdrücke im Winterweiß. Nichts wird hinterlassen. Alles wirkt heller hier innen. Auch ohne Sonne. Der Schnee reflektiert. 

Manche der Weißlinge landen am Fensterglas … und rutschen als Wassertropfen langsam die Scheibe hinab. Aus der Traum vom Leben als Eiskristall. Andere bläst und wirbelt es hin und her. Sie schlagen Purzelbäume, schrauben sich spiralförmig um die eigene Achse. Ein stiller Tanz im Schneegestöber. 

Der stürmische Wind zieht und zerrt an der Europaflagge bei uns am Fahnenmast. Das Hin- und Hergerissensein ist ja symptomatisch für die EU. Da windet sich die gemeinsame Philosophie auch hin und her. Zerrissen sind wir in Europa. Von Zusammenhalt kaum eine Spur. Im Gegensatz zur Neuschneedecke. Sie gleicht alles aus.

Verhüllte Natur.

Und ich erinnere mich: Christo, der US-amerikanische Künstler bulgarischer Abstammung (1935-2020), verhüllte 1971 bei uns in Krefeld das Kunstmuseum Haus Lange. Große Rollen braunen Packpapiers, meterweise Klebeband und Stoffbahnen lagen bereit. Und Christo klebte und klebte und klebte, verhüllte Fenster für Fenster, die Heizkörper, Vitrinen und Wandsockel. Alles verschwand unter Packpapier. Die Innenräume und die Wege des Parks legte der Künstler mit Stoffbahnen aus. Christo verpackte und verhüllte, um anderes stärker sicht- und erlebbar zu machen.

Und mir ist klar: Wenn in einigen Tagen der Schnee taut, werden wir die enthüllte Fläche mit anderen Augen betrachten. Wir werden neu und präziser wahrnehmen.

Noch schneit es draußen weiter. Die Schneedecke hat den Rasen längst mit Weiß übertüncht. Kein Grashalm mehr zu sehen. 

Die Bahn hat ihre Fahrten reduziert. Man käme mit der Schneeräumung nicht nach. Auch das scheint mir kein großes Problem zu sein. Beim Tanz der Schneeflocken. 

Und ich empfinde großen Dank für Christo und seine Frau Jeanne-Claude. Aber auch für alle großen und kleinen Künstler, die uns gelehrt haben, achtsamer, ja auch behutsamer, mit dieser Welt umzugehen. Sie ist unser Zuhause. Und ein unglaublich schöner Planet. Gerade jetzt unter dem reinweißen Tuch des Winters. 

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp