Es gab eine Zeit – ganz am Anfang der Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft –, in der es hieß: Menschen jenseits des 50. Lebensjahres können sich nicht mehr verändern. Da wären die Strukturen der Persönlichkeit so ausgeprägt und festgefahren, dass keine Hebel existierten, um Gewohnheiten in andere Bahnen lenken zu können. Wie man heute weiß: Das ist ein Trugschluss.
Ein schönes Beispiel dafür, dass es keine Altersgrenze gibt, um mehr Mut im Leben zu entwickeln, zeigt die folgende Geschichte:
Uta (Name geändert), 75, auf eine Gehhilfe angewiesen, war Teilnehmerin an meiner wissenschaftlichen Untersuchung zur „Sozialen Kompetenz im Alter“. Denn 1978, als ich das Experiment durchführte, war bereits abzusehen: Einsamkeit in höheren Jahren wird immer mehr zum Thema der Alternsforschung werden. Wie lässt sich also der drohenden Vereinsamung wirksam begegnen?
Der Versuchsaufbau sah vor, in mehreren Gruppen die inneren Selbstgespräche zum Aufbau von Mut und Selbstvertrauen einzuüben. Die 120 Teilnehmerinnen an diesen Kursen sollten einen Satz ihres Vertrauens durch verschiedene Methoden im Unterbewusstsein verankern. Uta, die 75-jährige Seniorin, allein lebend und ohne Familie als Rückhalt, wählte hierzu den Satz: „Ich schaff es schon!“
Ein halbes Jahr nach Ende des Kurses traf ich sie wieder. „Was macht denn Ihr Satz: ‚Ich schaff es schon!‘?“, fragte ich sie. Ihre Antwort: „Der heißt nicht mehr ‚Ich schaff es schon!‘. Der heißt nur noch Schaffscho!“
„Was heißt denn ‚Schaffscho‘?“, fragte ich irritiert.
„Also, ich will Ihnen das erklären“, lächelte sie. „Es war ein schöner Sommertag. Ich ging spazieren und erfreute mich an der Natur und an der wärmenden Sonne. Auf einmal stellte ich fest: Du bist ja so weit weg von zu Hause wie seit Jahren nicht mehr. Da bekam ich einen Schreck. Aber mir fiel sofort der Satz ein: ‚Ich schaff es schon!‘ Diesen Satz hatte ich ja gelernt! Und im Nu hatte ich keine Angst mehr. Ja, und dann habe ich mir vorgestellt: Du bist eine alte Dampflokomotive! Die hat ja Kraft, die kann ja ziehen … und dann bin ich einfach ‚angefahren‘ – so, wie die Dampflok immer schneller fährt: ‚Ich schaff es schon, ich schaff es schon, ichschaffesschon, ichschaffschon, schaffscho, schaffscho, schaffscho …‘ Was soll ich Ihnen sagen – mir ist noch nie ein Weg so leicht gefallen wie dieser. Ist das nicht toll?!“
Ein halbes Jahr später traf ich sie noch einmal. „Na, was macht denn Schaffscho?“, fragte ich lächelnd.
„Brauch ich nicht mehr“, antwortete sie verschmitzt, „ich mach jetzt nur noch … so!“ Dabei stieß sie ihre beiden Fäuste kurz nach vorn. Uta hatte ihren Anker immer weiter reduziert.
„Sie können es mir glauben oder nicht …“ Uta war von sich selbst begeistert. „Wenn ich so mache, also beide Fäuste kurz nach vorne stoße, bin ich topfit!“
Ja, sagenhaft. Und traumhaft schön, wenn Menschen es sich wert sind, ihre Fähigkeiten auszuleben und neue Dinge zu erfahren. Ganz gleich, in welchem Alter. Denn Lernen hört ja niemals auf.
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp