Ich war vierzehn. Meine Mutter hatte etwas Wichtiges anzukündigen. Eines Sonntags, nach dem Frühstück. Vater ging derweil spazieren, was er sowieso sehr gerne tat. Und er durfte sich ja auch nicht so richtig in die Erziehung einmischen. Er war ja Freidenker, also religiös ungebunden, was meiner Mutter nicht behagte. Sie wollte sicherstellen, dass ich römisch-katholisch geprägt und angeleitet werde. Da war mein Vater mit seiner Neigung zu den Geheimlehren des Buddhismus und Hinduismus eher auf Abwegen. Außerdem las er die Zeitschrift „esotera“ und das Buch „Der Weg zum wahren Adepten“, den spirituellen Lehrgang in zehn Stufen von Franz Bardon. Das alles fand Mutter seltsam, ließ ihn aber gewähren. So entwickelte ich mich letzten Endes zu einer kuriosen Promenadenmischung.
Ich ahnte, was kommen könnte. Gerade hatten wir einen Osterurlaub in der Schweiz verbracht. Und auf der Eisfläche neben dem Hotel war ich einem über ein Jahr älteren Mädchen nähergekommen. Das heißt, wir drehten unsere Runden nebeneinander und kamen ins Gespräch. Schlittschuhlaufen konnte ich ganz gut. Ich war ja auch immer am Eishockeysport interessiert.
Eine Runde später nahm ich ihre Hand, steigerte das Tempo und zog sie drei Runden hinter mir her. Was meine Mutter vom Hotelzimmer aus beobachtete.
Zu Hause hielt sie die Zeit dann für gekommen, mich aufzuklären. ‚Das kann nichts Gescheites geben‘, dachte ich noch, als sie mich nach dem Sonntagsfrühstück sprechen wollte.
Ich sei im Urlaub einem Mädchen nähergekommen. Und das könnte jetzt vielleicht öfter passieren. Da wollte sie mir ein paar Informationen mit auf den Weg geben. In der Schule gab es damals Aufklärung erst mit sechzehn. Unglaublich. Also war es Elternsache.
Mir war klar: Das weiß ich schon alles. Habe ja vor Jahren bereits klammheimlich im Anatomiebuch meiner Eltern und in deren „Ratgeber für Ehehygiene“ nachgelesen. Da stand beispielsweise, dass Onanie in jungen Jahren schädlich sein kann, weil der Mann im Erwachsenenalter dann nicht mehr genug Sperma produzieren würde. Wahnsinn.
Mutter legte an jenem Sonntagvormittag ein ernstes Gesicht auf. Was denn mit diesem Mädchen auf der Eisfläche gewesen sei? Sie sei doch älter als ich gewesen … Sie verkniff sich allerdings den Hinweis auf die Bienen und die Blüten.
Aber – was jetzt? Sie bekam kein Wort heraus. Dann griff sie verlegen zu einer schmalen Broschüre, einem sogenannten „Traktat“, das sie mir wortlos in die Hände drückte. „Wer sagt mir das?“, stand auf dem Titel. Daneben war ein Lausbub mit zahlreichen Sommersprossen abgebildet. Ein Heftchen für Jungen.
Als ich hochschaute, bekam Mutter knallrote Ohren und Wangen. Das einzige Mal, dass ich sie erröten sah. ‚Ach, Mami …‘, dachte ich – und musste schmunzeln. ‚Du hast Dein Bestes gegeben. Mehr ist nicht drin. Du meinst es ja gut mit mir.‘ Schade, dass Eure Generation ihre Bedürfnisse nie richtig ausleben konnte. Nach all den schweren Zeiten lagen Eure Gefühle zu lange in der Tiefkühltruhe der Geschichte.
Als Vater vom Spaziergang zurückkam, war die Aufklärung schon längst vorbei. Er war sicher froh.
Ins Traktat habe ich nie geschaut. Denn die Theorie kann die Praxis sowieso nicht ersetzen.
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp