Es ist Frühjahr. Der erste Reifenwechsel des Jahres steht an. Nicht nur der Garten, auch das Auto muss sommertauglich gemacht werden. „Hat man Ihnen mitgeteilt, dass wir teurer geworden sind?“ – „Nein, hat man nicht.“ Das Einlagern der Winterreifen ist um 25 Prozent gestiegen. Aber dafür sind neue Wandbilder in der Kundenwartezone zu sehen. Auch die Kaffeemaschine ist größer und glänzt jetzt in matt Silber. Neues Design. Macht aber auch nur Kaffee.
Sogar die Möbel hier sind neu. Die Sesselchen von einer Firma, die in Süddeutschland ein eigenes Museum unterhält. Da kann das Einlagern auch schon mal teurer werden.
Auf dem Weg zum Service hörte ich soeben den Rundfunkmoderator im WDR. Gewohnt flapsig. „Es gibt Menschen“, sagte er, „die sollte man von der Steuer absetzen können – als außerordentliche Belastungen!“. – Mensch, sein Grinsen war bis in die Lautsprecher zu spüren.
Ja, was ist mit den „außerordentlichen Belastungen“? Wer, was und warum wird zu dieser Belastung in unserem Leben?
Ich sitze hier und denke in den Freiraum der Zeit: Alles, was mich vom authentischen Leben abhält. Jeder, der mich für eigene Interessen ködern will.
Ich ziehe mir einen zweiten Kaffee.
Wir Menschen sind in erster Linie soziale Wesen. Wir wollen wahrgenommen, beachtet, geliebt werden. Wir brauchen den Anderen auch deshalb, weil er uns den Spiegel vorhalten kann, damit wir uns selbst genauer kennen lernen.
‘Ist das nicht das Wichtigste überhaupt?‘ fährt es mir durch den Kopf. Schon am Orakel von Delphi stand dieser Spruch geschrieben: „Erkenne Dich selbst!“ Brauchen wir deshalb nicht auch Menschen, die für uns außerordentliche Belastungen sind?
Zwischen Computerzeitschriften, Autotests und Hochglanzmagazinen, die kein Mensch braucht, liegt auf dem schwarzen Dreier-Tischchen sogar das Jahresbuch unseres Stadttheaters aus. Sagenhaft.
Menschen als außergewöhnliche Belastungen von der Steuer absetzen? Gut, dem Moderatoren-Scherzkeks im Radio lag das Augenzwinkern in der Stimme. Aber sehen wir die Sache doch mal von der anderen Seite: Reifen wir nicht auch an Menschen, an denen wir uns reiben können? Brauchen wir nicht „Gegner“, von denen wir uns abgrenzen lernen, um uns selbst nicht zu verlieren? Ist dieser Lernplanet nicht ein einziges Übungsfeld?
Irgendein schlauer Mensch sagte auch: „Dein größter Feind ist Dein größter Ratgeber.“ – ‘Seien wir dankbar für Menschen, die uns herausfordern‘, fährt es mir durch den Kopf.
„Fertig!“ ruft die Dame vom Kundencenter. „Ihre Winterreifen sind eingelagert. Wie möchten Sie zahlen?“
„Ich trinke erst meinen Kaffee noch aus“, rufe ich ihr zu.
Irgendwie bin ich froh, die Wartestunde mit dem Schreiben dieser Anekdote gefüllt zu haben. Die Zeit gut zu füllen, eine erfüllte Zeit zu leben – daraus lässt sich noch eine eigene Geschichte stricken.
Mit den Sommerreifen kann ich jetzt, Mitte April, in den Frühling starten. Das ist keine außerordentliche Belastung, sondern eine Zeit für leichte Schultern.
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp