Das Fenster zur Seele

Der Vier-Minuten-Augenkontakt

Gruppendynamik“. Dieser Begriff wurde von Kurt Lewin 1939 zum ersten Mal in die wissenschaftliche Debatte eingeführt. Im letzten Drittel meines Studiums traf ich die Entscheidung, mich in Gruppendynamik ausbilden zu lassen. Das gehörte zum Bereich der Sozialpsychologie. Es ging unter anderem um die Erkenntnis: Eine Gruppe ist mehr als nur die Summe ihrer Mitglieder.

Also: wir begannen immer im Stuhlkreis. Donnerstags, 19 Uhr. Fünfundzwanzig Student*innen in den therapeutischen Semestern. Meistens gab es kein Programm. Die Trainer legten Wert darauf, dass wir das Schweigen aushielten und schauten, was sich daraus entwickeln würde.

Ich erinnere mich besonders an eine Übung, die wir unmittelbar am Anfang durchführten, um miteinander „warm“ zu werden. Diese Übung heißt: Der „Augenkontakt“. Sie ist zunächst ungewohnt. Und alles andere als einfach. Denn normalerweise schauen wir in Gesprächen alle paar Sekunden kurz zur Seite. Das war hier nicht vorgesehen.

Wir alle gingen also langsam schreitend und schweigend durch den Raum. Und schauten kurze Zeit später, wer Blickkontakt aufnehmen wollte. Hatten sich zwei gefunden, so blieben sie voreinander stehen – und schauten einander an. Einfach so. Ohne wegzuschauen. Minutenlang. Blickten sich in die Augen. Neugierig? Mitfühlend? Liebevoll? Und erblickten durch die Augen des anderen Menschen auch ein Stück seiner und ihrer eigenen Seele. – Bevor wir weitergingen, und wieder stehenblieben – und wieder schauten.

Nach der ersten Überwindung war dieser Augenkontakt … wunderbar. Wir spürten, dass wir alle irgendwie gleich ticken. Wir alle sind mitmenschliche, soziale Wesen. Wir brauchen die Wärme, das Licht in den Augen der Anderen – und die Berührung unserer Seelen.

Fast 50 Jahre später:

Es ist nach wie vor berührend. Da stehen erwachsene Menschen um den Fernseher herum – und ich verteile Taschentücher. Heute leite ich zum ersten Mal ein „Versöhnungs-Seminar“. Und den kurzen Film, den wir uns zu Beginn anschauen, hat Amnesty International gedreht. Einen Volltreffer ins Herz: Look Beyond Borders. Ein Vier-Minuten-Experiment nur über die Liebe. Die Brüder- und Schwesterlichkeit. Das Überwinden von Grenzen. Ohne jede Sprache, ohne große Gebärde, ohne emotionales Umfeld. Gedreht in einer schmucklosen Berliner Fabrikhalle.

Die reine Konzentration zweier Menschen, die sich nicht kennen, sich noch nie vorher gesehen haben, auf den Augen-Blick des anderen. Abtauchen in seine Augen ohne wegzuschauen. In das Spiegelbild ihrer und seiner Seele.

„Als ich in ihre Augen geschaut habe“, sagt Lee, der Engländer, über Samira aus Syrien, „habe ich versucht zu sehen, was sie mir über das Leben erzählen, das sie gelebt hat. Ich denke, ich habe da sehr viele Erfahrungen gesehen.“

Und der syrische Flüchtling ergänzt: „Ob Ihr Euch in die Augen schaut oder nicht, spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass man die Gelegenheiten nutzt, um miteinander zu reden und den anderen Menschen zu sehen.“

Ein Lehrstück über die Entstehung von Vertrauen und Nähe. Ein Eisbrecher für den Moment, in dem zwei Menschen tiefe Sympathien füreinander entwickeln. Die meisten umarmen sich am Schluss. Und ich fühle meine Sehnsucht nach Frieden und Liebe unter den Menschen. Und gleichzeitig meine Trauer, dass wir so große Angst haben, uns verletzlich zu zeigen. Wir alle haben doch unsere eigene Geschichte zu erzählen.

Du findest dieses Experiment auf YouTube unter dem Titel „Look Beyond Borders“. Es ist tatsächlich so berührend, dass ich auch nach mehrfachem Hinschauen immer noch feuchte Augen bekomme.

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp