Suche die Stille (Teil 2)

Im Sommer 2018.

Als ich diese Zeilen schreibe, sitze ich im Schatten einer ganz friedlichen, leicht hügeligen Landschaft eines „Silent Stay Retreat Center“, eines Klosters ohne Mauern. Bunte Schmetterlinge suchen ihren Blüten-Landeplatz, viele kleine Vögel zwitschern unterhaltsam miteinander, ein Nachwuchs-Tausendfüßler kurz vor meinem Fuß versucht, seine Gang-Koordinaten einzuhalten. Eine wunderbare Stille um mich herum… 

Und ich schniefe und huste, was das Zeug hält. Ich habe mittlerweile schon so viele Taschentücher verbraucht, dass ich dazu übergegangen bin, eine Toilettenrolle zu benutzen. Die ist leichter zu handhaben, und kommt bedeutend billiger. 

Keine Frage, ich hatte mich im Vorfeld meines Urlaubs grenzenlos überfordert. Monatelang 60 bis 80 Wochenstunden gearbeitet. Meinen Patienten zuliebe, meinen Ehrenämtern zuliebe, der Selbstbestätigung zuliebe. Aber ich sollte nun anerkennen, dass es mit meinen 70 Jahren nicht mehr so reibungslos funktioniert. Warum glauben wir (mich eingeschlossen) immer noch, wir müssten uns beweisen? Vor wem? Und wozu? Wir müssen nichts (mehr) beweisen. Das ist unser Lernprozess. Wir dürfen sein. Wir dürfen einfach sein – so wie wir sind. Das ist unsere wahre Natur. Das gibt uns den inneren Raum, die innere Freiheit. Üben wir tagtäglich (mich eingeschlossen), einfach zu sein, einfach zu leben. Unser kleines, bescheidenes Leben zu führen. Jetzt, in diesem Moment. 

Was mir dieser Augenblick abseits des Lärms der Großstadt schenkt? 

Freiheit vom auffordernden „Heb ab! – Klingelton“ des Telefons, Freiheit vom PC, vom Internet, von Nachrichten oder den neuesten Musik-Trends. Mir wird die Freiheit geschenkt, „offline“ sein zu dürfen. Freiheit von Verabredungen. Freiheit von „Einredungen“: Du musst, Du darfst nicht vergessen, Du bist in der Pflicht, man erwartet von Dir…

Freiheit zu atmen. Meinen Atem bewusst wahrzunehmen. Atem ist Hingabe. Einatmen – ausatmen. Den Atem wieder loslassen. Einatmen – und loslassen.

Was mir dieser Augenblick noch schenkt? 

Ich darf meine Gedanken ziehen lassen. Niemand interessiert sich hier für meine Gedanken. Also muss ich es auch nicht. Ich darf meine Gedanken auf Reisen schicken. Oder sie an die kleinen Schleierwölkchen hängen, die das Blau des Himmels illustrieren. 

Wird fortgesetzt…

In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp