Zeit für die Sinne – Zeit für den Sinn

Teil 1.

Stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten einige Kilometer über eine schnurgerade, ebene, hindernisfreie Betonbahn gehen. Am Ende der Strecke werden Sie ermattet sein.

Wie anders wird es Ihnen bei einer Wanderung durch den Wald ergehen! Da sind verschlungene Pfade, es geht über Stock und Stein. Wurzeln, Moos, dichtes Gebüsch, Rinnsale. Das Licht ist dämmerig. Sie müssen ganz Auge, ganz Ohr sein. Ganz Nase. Es duftet nach Waldkräutern und Waldboden. Seltsame Geräusche von überall her. Vogelstimmen.

Am Ende des Weges sind Sie erfrischt, fast wie „neugeboren“. Was ist geschehen? 

Im Wald sind Sie mit Körper, Seele und allen Sinnen voll beansprucht. Überall kleine, mit Hindernissen verbundene „Wagnisse“.

Auf der risikolosen Betonbahn fordert Sie nichts heraus. Sie haben nichts zu bestehen. Sie sind sozusagen überflüssig. Das ist es, was uns „kaputt“ macht: Die Unterschlagung unserer Fähigkeiten. Leben bedarf der Hindernisse. Wo kein Wagnis, da kein Leben.

Leben bedarf der sinnlichen Wahrnehmung und Empfindung. Der Sinnhaftigkeit.

Ein deutscher Künstler, ein Multitalent, Hugo Kükelhaus (1900-1984), hatte dies bereits vor einigen Jahrzehnten beschrieben. „Schreiben“ hieß bei ihm noch Bücher per Hand zu schreiben, da er der Überzeugung war, dass die Gedanken authentischer fließen, wenn der Kopf sie in die Hand diktiert. Hugo Kükelhaus war seiner Zeit weit voraus.

Auf der Weltausstellung „Expo“ in Montreal 1967 schuf er sein „Erfahrungsfeld für die Sinne“. Aber damals ging es vielen jungen Menschen eher um Rebellionsgefühle und hedonistischen Aufbruch. Es war gleichzeitig die Pionierphase der sinnlichen Entdeckungen: des eigenen Körpers, der eigenen Sexualität, des „Eigen-Sinns“ und der Ekstase. Die Sehnsucht ließ die Herzen allerdings mehr in Richtung Flower Power, Hippies und San Francisco fliegen als auf das Erfahrungsfeld der Sinne von Hugo Kükelhaus.

Heute aber, in einer Zeit, die den Menschen immer stärker entwurzelt, wäre er Trendsetter. Trendsetter zumindest im Sinne des Gegentrends zur werteauflösenden Gesellschaft.

Wird fortgesetzt…

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp