Augen-Blicke

Es gibt soviel Güte und Wärme zu entdecken, dass wir, wären wir nicht so blind, einen unermesslichen Reichtum einatmen könnten.

Dies gilt nicht nur für Verliebte, die sich nicht satt sehen – oder, sagt man nicht besser: satt trinken? – können an und in den Augen des Anderen, die sich in ihrer Verliebtheit in den funkelnden und strahlenden Augen-Blicken des geliebten Partners unsterblich wiederfinden …

Augen sind das Spiegelbild der Seele. Manche Augen-Blicke vergisst man sein Leben lang nicht.

Mindestens einmal im Jahr entrinne ich der Hektik des Alltagslebens, indem ich die Benediktiner-Abtei St. Josef in Gerleve bei Münster aufsuche. In diesem Kloster habe ich mich seit jeher wohlgefühlt. Als ich zum erstenmal diesen Weg zur Innerlichkeit suchte, wurde ich auch dem Abt des Klosters vorgestellt. Dies geschah kurz vor dem gemeinsamen Mittagsmahl, als alle Patres und Fratres in demütiger Ordnung und schweigend vor dem Abt in die Mensa, den Speisesaal, schritten.

Abt Clemens hatte die Augen als Zeichen seiner inneren Sammlung und Kontemplation Niedergeschlagen.

Kurz vor dem Erreichen der Türe unterbrach der Gäste-Pater sein andächtiges Schreiten: „Darf ich Ihnen vorstellen: Herr Rupp, ein neuer Gast.“

Was nun geschah, bleibt für immer in meinem Herzen verankert.

Abt Clemens hob seinen Kopf und änderte mit dem ersten Augen-Blick, der meine Augen berührte, auch seine innere Haltung. Im Bruchteil einer Sekunde traten seine Augen aus der Versenkung heraus und nahmen mich, den Fremden, erstaunt und liebevoll wahr. Auf eine Weise wahr, als könne man einen inneren Schalter betätigen, mit der das Licht in den Augen, „angeknipst“ würde. Von einem auf den anderen Moment stand ich im Licht seiner Augen.

Als sich seine Augen weit öffneten, und für etliche Sekunden in den meinen verweilten, strahlten sie eine Liebe und Güte aus, die mir in meinem ganzen Leben von einem Unbekannten noch nie zuteil wurden.

Das irritierte und veränderte zur damaligen Zeit alles, was ich über Körpersprache, über die psychologischen Momente eines ersten Aufeinandertreffens, gehört, gelesen und erfahren hatte. Wie kann ein Fremder einem Fremden auf diese Weise begegnen? 

Wie kann ein Mensch, der den anderen nicht kennt, ihn noch nie gesehen hat, ohne ihn den Bruchteil einer Sekunde abzuschätzen, einzuschätzen, eine solche Liebe verströmen?

Ich war bis ins Mark getroffen. Womit hatte ich eine solche Liebe und Güte verdient?

Ich hatte doch nichts geleistet, ich war doch gerade erst … hier! Ich bin doch nur – da! Ein „normaler“ Mensch, der nichts Außergewöhnliches vorweisen kann.

In diesen Sekunden, in denen sich unsere Blicke – nein, unsere Herzen trafen, wurde mir schlagartig bewusst: Wir alle sind Teil einer großen, ewigen Seele, die uns alle vereint. Die uns nicht trennt, die uns alle teilhaben lässt an dieser einzigen,  großartigen göttlichen Symphonie.

Als seine weiten, offenen Augen mir diese Liebe sandten, wurde mein Weltbild erschüttert. Freiheit und Abgrenzung waren mir bis zu diesem Zeitpunkt das Wichtigste im Leben. Jetzt, in diesem Moment, in diesem Augen-Blick, wurde tief in mein Herz geschrieben: Liebe, Demut und Weisheit sind die wichtigsten Gaben, die Gott uns auf den Weg gegeben hat.

Als sich seine Augen nach vielen Sekunden, die mir wie eine kleine, kostbare Ewigkeit vorkamen, wieder nach innen kehrten, und er seinen Weg in den Saal fortsetzte, war mir bewusst: Ich wurde reich beschenkt.

Kein einziges Wort wurde gewechselt, kein Zeichen war nötig außer diesem Leuchten der Augen, das dem Leuchten der Seele entspringt. Später habe ich mich mit den Regeln des Heiligen Benedikt
befasst. So konnte ich dankbar nachvollziehen, was geschehen war. Wie in den Regeln steht, soll auch der Abt sich jedem Gast „zu Füßen werfen“, da ihm in Gestalt eines Fremden Jesus Christus selber begegnet.

Was ich zutiefst erfahren habe: Es gibt kurze, unauslöschliche Augen-Blicke im Leben, die Botschaften des Himmels sind.

Und: Die wahren Werte des Menschseins sind tief in den Schatzkammern unserer göttlichen Seele geborgen. 

In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp