Einmal im Monat treffen wir uns zu einem philosophisch-spirituellen Abend. Der Abend, an dem ich den „Erleuchtungsteppich“ kennen lernte, war ein ruhiger Spätnovembertag. Wir saßen im Wintergarten zusammen. Draußen steht ein knorriger Walnussbaum, dessen Früchte Herbst für Herbst die Eichhörnchen einsammeln, im Schein einer Außenleuchte. Leicht entrückt schaute ein Freund unentwegt nach draußen.
Was keiner von uns bemerkt hatte, formulierte er zwei Stunden später wie folgt:
„Ich schaue die ganze Zeit auf die zwei Blüten zwischen Lichtquelle und Baum.“
Wir alle hatten sie nicht wahrgenommen, nicht beachtet, oder nicht wertgeschätzt. Zwei wunderschöne blaue Blüten gegen Ende November, draußen, wo die Natur sich auf den Winter eingerichtet hat.
Unser Freund fuhr fort: „Das sind für mich „Erleuchtungspunkte“.
Mein Zen-Lehrmeister spricht immer von Erleuchtungsknoten. Er sagt: Sei achtsam und entdecke die kleinen Dinge des Alltags. Nimm alles das, was Dich erfreut, was Dein Herz beseelt, Dich lächeln oder staunen lässt, als einen Erleuchtungspunkt in Deinem Leben an. Knüpfe jeden Erleuchtungspunkt in die Grundlage, die Grundausstattung Deines Lebens ein. So entsteht im Laufe der Zeit Dein ganz persönlicher Erleuchtungsteppich. Knoten für Knoten entsteht das Muster Deines Lebens. Sei achtsam, und Du wirst im Hier und Jetzt viele Erleuchtungspunkte finden, die Dich das Leben mit anderen Augen und einem erfüllten Herzen sehen lassen.“
Die beiden zarten Blüten, die unser Freund achtsam wahrnahm, waren zwei Blüten des blauen Eisenhuts (lateinisch: Aconitum napellus), die er nun in seinen Erleuchtungsteppich einknüpfen konnte.
Das alles beeindruckte uns sehr, und wir fragten ihn, wie er denn im Alltag so viele Erleuchtungspunkte finden könne, dass am Ende seines Lebens ein stattlicher Erleuchtungsteppich gewebt sein könnte.
Darauf erwiderte er: „Jeden Morgen, schon bevor ich zum Dienst gehe, nehme ich mir vor, fünf Erleuchtungspunkte zu sammeln. Das kann der Morgentau auf den Feldern sein, eine Blume am Wegesrand, ein Sonnenstrahl, der scherenschnittartige Schatten wirft, ein wundervoller Gedanke, ein Gebet, eine harmonische Melodie, das Lachen eines Kindes auf dem Weg zur Schule, die
Stille eines Augenblicks. Es gibt soviel zu entdecken, was unser Leben bereichert. Wir müssen nur hinschauen. Erleuchtungspunkte gibt es ohne Zahl.“
In herzlicher
Verbundenheit
Georg Rupp