Jeder kennt sie. Nicht jeder mag sie: Kalendersprüche. Zum Beispiel die klassischen Abreißkalender. Hinter jedem Datum steht ein zu Worten formulierter Gedanke. Manchmal banal ohne Ende, manchmal zumindest mit alltagsphilosophischem Anspruch.
In letzter Zeit lese ich öfter von Gegenmeinungen. Also von Ansichten, die Kalendersprüche missbilligen. Oder sie sogar zum Erbrechen finden. „Und immer wieder geht die Sonne auf …“ zum Beispiel. Oder: „Gut Ding braucht Weil‘.“ – „Der Erfahrene hat viele Narben.“ Oder sogar das bekannte „Carpe diem!“ (Nutze den Tag.)
Kalendersprüche. Eine Bekannte von mir leitete vor längerer Zeit eine Gruppe älterer Patientinnen und Patienten, die an Krebs erkrankt waren. Monatlich erschien eine Veranstaltungsliste mit Yoga- und Vortragsterminen für die Gruppe auf insgesamt vier Seiten. Da blieb einiges an Platz übrig. Die füllte sie mit Sprüchen, die ich in Rosamunde-Pilcher-Filmen oder in der Regenbogen-Presse erwartet hätte.
Als Vorsitzender der Gemeinschaft fand ich diese „Küchenlyrik“ grenzwertig. Dann versuchte ich einen zweiten Blick auf die „Füllsel“. Und bemerkte, dass meine Bekannte mit diesen Sprüchen ihre eigene Sehnsucht nach einem gelingenden Leben verband. Sie konnte gar nicht anders. Genau nach ihren eigenen unerfüllten Sehnsüchten als jung verwitwete Frau und in schwierigen Umständen lebend suchte sie diese „Kalendersprüche“ aus. Da stand dann zum Beispiel: „Zahme Vögel singen von Freiheit. Wilde Vögel fliegen!“ Also ähnlich wie: „Brave Mädchen kommen in den Himmel. Böse Mädchen kommen überall hin.“ Sie träumte von dem, was in ihrem Leben nicht stattfand. Vielleicht hat es ihr ja geholfen.
Ich bin kein Gegner von „Kalendersprüchen“. Es gibt sehr gute und tiefschürfende. Auch das „Carpe diem“ in Verbindung mit dem Kultfilm von 1990 „Der Club der toten Dichter“ ist eine Super-Aussage. Nur missbraucht im internationalen Management – oder im Blumengeschäft an der Ecke.
Die Kernaussage heißt aber noch heute: Greif dein Leben mit beiden Händen. Lebe nicht als Kopie, denn du bist ein einzigartiges Original.
Bob Marley hatte es drauf. Nicht nur als Ikone des Reggae aus den Bergen von Jamaika. Er fasste seine Lebenseinstellung in zehn Worten so zusammen: „Wenn ich nicht helfen kann, hat mein Leben keinen Sinn.“
Könnte auch ein Kalenderspruch sein. Ist aber weit mehr: Das Bewusstsein über die unmittelbare Verantwortung für die Schöpfung, für Klima und Natur. Über die Liebe zu sich selbst und seinen Mitmenschen. Und über die Freiheit, die uns die Hilfsbereitschaft schenkt.
Ich brauche mir keine „Küchenlyrik“ an die Wand zu hängen. Aber zu lernen, gute Texte von minderwertigen zu unterscheiden, ist spannend – und macht einfach Sinn.
In herzlicher Verbundenheit
Ihr Georg Rupp
