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Drei Schachteln Rasierklingen

und was sie mit mangelndem Selbstbewusstsein zu tun haben

1962 war es noch nicht so voll im Zentrum unserer Stadt. Bereiche für Fußgänger gab es noch nicht. Der aufkeimende Autoverkehr hatte Vorfahrt. Modern waren Unterführungen an belebten Kreuzungen. Nicht für Autos, sondern für Menschen. 

Zu diesem Zeitpunkt war ich 14 Jahre. Meine Pubertät setzte schon ein Jahr früher ein. Aber der Bartwuchs ließ noch zu wünschen übrig. Da wuchs nichts zusammen. Eher ein Flaum und ein paar weiche Stoppeln im Gesicht. Da wollte ich mit dem Rasieren noch gar nicht anfangen. Lohnte ja nicht. Das war keinen Gedanken wert – bis ich zur nächsten Straßenecke kam.

Auf dem Weg zu meinem Lieblings-Schallplattengeschäft wurde ich nämlich von einem glattrasierten Dreißigjährigen ausgebremst. Ob ich nicht was bräuchte, sprach er mich an. – Was bräuchte? – Ich weiß noch, dass ich im selben Moment Angst um mein schmales Taschengeld bekam. ‚Ich will doch nichts!‘, schoss es mir durch den Kopf. Aber: „Nein“ sagen hatte ich nicht gelernt. 

Als ich meinen Gang vor ihm stoppte, um nicht unhöflich zu sein, fingerte er aus seiner Hosentasche eine Schachtel mit Rasierklingen heraus. „Die kannst Du sicher gut gebrauchen. Kosten nur zwei Mark!“ – Um Gottes Willen! Rasieren stand noch gar nicht an. Und wenn, dann wollte ich Vaters Rasierapparat ausprobieren.

Da hatte er sich vor mir auf dem Bürgersteig aufgebaut und in Position gebracht … ‚Ich komm gar nicht an ihm vorbei!‘ Mein Herz pochte bis zum Hals. Rucksack abschnallen, zwei Mark in der Schülerbörse suchen … Das schien mir die einzige Chance, um ihm zu entkommen. Alle Passanten gingen ja achtlos vorbei. Keiner bekam mit, was hier los war.

Ich hielt ihm ein Zwei-Mark-Stück zum Tausch hin. Er nahm das Geld, lächelte – und blieb stehen. ‚Warum geht der nicht weiter?‘ – „Dann brauchst Du sicher“, schob er hinterher, „noch zwei Ersatzschachteln mit Rasierklingen.“ Fingerte in seiner Hosentasche … Gut, fünf Mark war dann sein Sonderpreis. Dann ging er mir endlich, äußerst zufrieden, aus dem Weg. 

Vergeblich versuchte ich zu Hause, meinem Vater die Rasierklingen weiterzuverkaufen. Kopfschüttelnd wunderte er sich über meine Naivität.

Später trainierte ich das „Nein-sagen“. Überall und bei jeder Gelegenheit. Das half mir, selbstsicherer und selbstbewusster zu werden.

Und weil das jede und jeder schaffen kann, schreibe ich hier über diese kleine Begebenheit des vierzehnjährigen Georgs. 

Grenzen setzen macht frei. Jeder Mensch kann nur seine Selbstständigkeit und seinen Freiraum behalten, wenn er sich abgrenzen kann. Mit siebzehn war die Sache für mich klar. Das „NEIN“ war programmiert. Es gibt aber keine Altersgrenze, um eigene Grenzen zu ziehen und sie zu verteidigen. Das Leben gibt uns immer wieder die Chance dazu.

In herzlicher Verbundenheit

Ihr Georg Rupp