photo of buoy on body of water

Die kleine Boje und das Meer

Teil 1

Schon eine ganze Zeit lang beobachte ich die kleine Boje im Hafen. Von Ferne betrachtet sieht sie aus wie die Baustellenhütchen oder Warnkegel, die als Schutz auf unseren Straßen um große Schlaglöcher oder Sandhaufen herum aufgebaut sind. Oder dort, wo gebuddelt wird.

Wahrscheinlich markiert die Boje hier die Grenze der Fahrrinne für an- und abfahrende Schiffe. Die Bedeutung spielt für mich als Betrachter aber keine Rolle. Meine Augen haben einen Halt gefunden, bevor sich der Ozean in der Weite schier endlos ausbreitet.

Unsere Überlebensgarantie, Mutter Sonne, lässt die Wasserperlen silbrig hell glitzern. Miniwellen umspülen die kleine Boje. Brechen sich an ihr. Und finden hinter ihr wieder in ihren eigenen Rhythmus. 

Und mir fällt ein völlig unpassender Vergleich ein. Mein früherer Philosophielehrer pflegte zu sagen, wenn er über die „stoische Ruhe“, also die Einstellung der Stoiker im alten Athen, sprach – ich zitiere: „Was stört es eine Eiche, wenn sich die Schweine daran scheuern!“ – Was er uns näher bringen wollte, war die bewusst gewählte Einstellung: Lass Dich nicht aus der Ruhe bringen. Bestimme selbst, was Dich aufregen darf – und was es nicht wert ist, dass Du es Dir zu Herzen nimmst. 

Dabei waren die Mitglieder der Philosophenschule der Stoa keineswegs pure Egoisten. Sie waren sehr politisch. Sie mischten sich ein. Als Teil des Ganzen lebten sie ihre soziale Verantwortung. Aber sie ließen auch unbeeindruckt zu, dass Andere sich an ihnen und ihren Lebensüberzeugungen reiben durften. 

So wie die Boje vor meinen Augen. Sie steht unbeirrt mitten im Hafen. Hält aufrecht ihre Position. Bei Wind und Wetter. Tag und Nacht. Bei Flaute oder stürmischer See. Wie der Fels in der Brandung. 

Und mich berührt der Gedanke, dass wohl jeder Mensch einen anderen Menschen braucht, der „wie ein Fels in der Brandung“ ihm zur Seite steht. Verlässlich, rücksichtsvoll, und seiner selbst bewusst. Denn ohne Rückendeckung fühlen wir uns in der Regel doch sehr allein gelassen. Wir sind soziale Wesen und brauchen einander.

Aber ist es nicht so in der ganzen Natur? Auch die kleinen Wellen um die Boje herum lassen sich nicht alleine betrachten. Sie sind alle miteinander verbunden. Mit der Nachbarwelle, den vorauslaufenden und nachrückenden Wellen ebenso. Wie mit der Gesamtheit, der Ausdehnung und Tiefe des Wassers.

Willigis Jäger, der große deutsche Mystiker und Zen-Meister (1925-2020) wählte den Vergleich: „Du, Mensch, bist wie eine Welle im Meer. Aber Du bist auch das Meer.“ Was nichts anderes bedeutet als: Kein Mensch ist wirklich allein. Alleinsein ist unsere Interpretation eines Gefühls. Wir fühlen uns – hin und wieder – einsam. Aber ich bin überzeugt, dass es auch dann einen Menschen gibt, der gerade an Dich denkt. 

Die Boje ist fest verankert. Sie treibt weder hin noch her. Und die silbern schimmernden Wellenkämme scheinen sich langsam in der Ferne zu verlieren. Die „tausend Augen des Wassers“, wie Hermann Hesse sie einst beschrieb. So, als würden sie uns anschauen. Ja, vielleicht sogar mit uns sprechen.

Manchmal möchte ich eine Welle sein. Und manchmal eine Boje. Unverrückbar und fließend. Stark und geschmeidig. Solitär und solidarisch. So, wie mein Auge jetzt wandert: Von der Boje zu den zahllosen glitzernden, frei fließenden Wellen … und zurück.

Sei beides: Stehe zu Deiner Stärke und Unbeirrtheit. Und bleibe verbunden mit dem Strom und dem Meer Deines Lebens.

Wird fortgesetzt

In herzlicher Verbundenheit

Ihr Georg Rupp