Fräulein Maria ist rot geworden

Zweiundzwanzig Jahre war sie jung und Altenpflegerin. Ihr Arbeitsplatz in den 1980er Jahren lag meiner Praxis genau gegenüber. Ein Altenheim mit Pflegestation. 

Maria (Name geändert) stellte sich beim Erstgespräch vor. „Ich bin so schüchtern“, sagte sie und errötete leicht. „Ich bin total schüchtern“, wiederholte sie eindringlich. Und legte die Arme ganz eng an ihren Körper. „Mir ist klar“, fuhr sie fort, „das liegt an mir.“ Alle würden hinter ihrem Rücken schon tuscheln und sich angrinsen …

„Haben Sie das tatsächlich schon mal festgestellt?“, fragte ich sie. – Nein, wahrgenommen habe sie das noch nicht. Aber das wäre ja klar. Beim gemeinsamen Mittagessen am Tisch mit fünf anderen Altenpflegern sei es ganz ruhig. Keiner würde etwas sagen. Alle würden total schweigsam essen. „Und da traue ich mich nicht hochzuschauen. Ich möchte gar nicht mitbekommen, wie die sich angrinsen und hinter meinem Rücken auf mich zeigen.“ – „Ja, wohin schauen Sie denn die ganze Zeit, während Sie essen?“, wollte ich wissen. – Sie säße so vornübergebeugt. In die Suppe würde sie schauen oder auf den Teller. – „Und Sie blicken nie hoch und vergewissern sich, was die anderen machen? Ob die wirklich über Sie und Ihre Schüchternheit lachen?“ – Nein, das könne sie nicht. Sie wolle es auch überhaupt nicht wissen. Das wäre ja schrecklich, wenn sich ihre Vermutung bestätigen würde. Damit könne sie dann nicht leben. 

Es stand aber eine noch größere Herausforderung an. Am kommenden Wochenende sei Schützenfest im Ort. Und da strömten sicher tausend Menschen ins Festzelt, um gemeinsam zu feiern. Ihr Freundeskreis hätte leider beschlossen, dass jeder mal an der Reihe sei, nach vorne zum Tresen zu gehen und für den ganzen Tisch die Getränke zu holen. Wie schrecklich wäre das, wenn sie etwas verschütten würde und alle das mitbekämen. Peinlich, sogar extrem peinlich wäre das für sie. Allein schon der Weg zur Theke, an den Tischen vorbei … Sie könnte ja stolpern oder sich ungeschickt verhalten und damit auffallen … „Und dann habe ich ja noch die Riesenangst, rot zu werden. Das kann ich dann ja gar nicht mehr stoppen.“ Der Horror stand ihr vorauseilend ins Gesicht geschrieben. 

Fräulein Maria ließ keine Möglichkeit aus, vorherzusagen, was alles passieren könnte, wenn …

Ich unterbrach sie nach einigen Minuten ihrer quälenden Prophezeiungen.

„Sie sehen das viel zu positiv!“, warf ich ein. Und: „Das ist ja viel zu harmlos gedacht. Wissen Sie, was am kommenden Wochenende im Festzelt wirklich passieren wird?“ – Nein, das wisse sie nicht, entgegnete sie ziemlich konsterniert. 

„Dann hören Sie mir mal genau zu. Ich sage Ihnen, was passieren wird! Also, wenn Sie zur Theke gehen müssen, weil Sie an der Reihe sind, unterbrechen alle, aber auch wirklich alle Gäste im ganzen Festzelt auf einen Schlag ihre Unterhaltung. ‚Da!‘, rufen sie sich zu … ‚Fräulein Maria geht zum Tresen.‘ Die Gespräche verstummen. Ohne Ausnahme. Tausend Augenpaare verfolgen jeden Ihrer Schritte. Sie werden von allen Seiten fassungslos angestarrt. Jeder im Zelt ist fokussiert auf Ihren Gang. Man kann eine Stecknadel fallen hören. Und alle fragen sich, ob Sie heil an der Theke ankommen werden. Verstehen Sie?!“ – Irgendwie verstand sie das alles nicht. 

Und weiter: „Das ist noch nicht alles. In der Tagesschau des Ersten Deutschen Fernsehens wird der Nachrichtensprecher Karl-Heinz Köpcke (so hieß er damals) am selben Abend eindringlich verkünden: ‚Bestürzender Vorfall beim Schützenfest in K.! Fräulein Maria ist rot geworden!‘ – Puterrot! Mit Foto im Fernsehen! Die ganze Nation kennt jetzt Ihr Schicksal!“ 

Maria lachte verhalten, gönnte sich aber einen tiefen Atemzug. Ihr Körper entspannte sich. „Nee“, widersprach sie, „so schlimm wird es schon nicht werden …“

Zwei Wochen später berichtete sie, dass es ein schöner Abend gewesen sei. Sie hätten viel Freude gehabt. Und es sei auch alles glatt gegangen. Selbst ihr Gang zur Theke. Und rot geworden sei sie auch nicht. 

Aber es war noch etwas anderes passiert. „Sagen Sie mal, Herr Rupp …“, Maria überlegte kurz und fuhr fort: „Kann es sein, dass meine Arbeitskollegen, mit denen ich am Mittagstisch zusammensitze, irgendwie unsicher sind?“ – „Wie kommen Sie denn zu dieser Vermutung?“, fragte ich sie. Sie lächelte. „Ich habe mir vor einigen Tagen einen Ruck gegeben – und bei der Suppe hochgeschaut. Und da habe ich gesehen, dass alle still und irgendwie verlegen nach unten in ihr Essen geguckt haben. Sind die vielleicht auch alle schüchtern? Und kann es sein, dass ich mir die ganze Zeit nur etwas vorgemacht habe?“

So ist es. Das „Fräulein“ hat sie sich auch schnell abgewöhnt. Die Bezeichnung „Frau“ würde ihr doch eher gerecht, meinte sie am Schluss. 

Manchmal helfen Übertreibungen und Provokationen, die Maßstäbe wieder geradezurücken. Sich selbst nicht mehr so wichtig zu nehmen. Und vor allem: sich nicht mehr als Mittelpunkt der Welt zu sehen, um den sich alles dreht.

In herzlicher Verbundenheit

Georg Rupp