Liebe Leser*innen, diese Geschichte habe ich vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie geschrieben. Wir alle wissen, dass Umarmungen in der beschriebenen Form zur Zeit nicht möglich sind. Aber inhaltlich stimmt die Geschichte ja. Und darum geht es mir. Umarmen tut einfach gut.
Warum umarmen wir uns so selten?
Die junge Patientin kann ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Tränen reinigen in aller Regel. Sie sind ja weder Schande noch Betriebsunfall. Und an mehreren Stellen in meiner Praxis liegen auch Taschentücher zur Selbstbedienung bereit.
Ihr Mann nimmt sie so selten in den Arm, beklagt sie sich. Er wäre ja treu und zuverlässig. Aber Zärtlichkeiten seien Mangelware. Dabei ginge es ihr ja in erster Linie gar nicht um Sex. Sie vermisse besonders diese „Streicheleinheiten“.
Ihr Mann guckt etwas hilflos. Es falle ihm halt schwer. Seine Mutter habe ihn als Kind auch nie gedrückt. Dabei ist zu spüren, dass er sein eigenes Defizit schon längst erkannt hat.
Berührung ist wie eine Symphonie. Da kommen mehrere Dinge zusammen.
Szenenwechsel: Sagt Dir der Name Juan Mann etwas? Wahrscheinlich nicht. Es ist ja auch einige Jahre her. Seine Geschichte war folgende:
Juan ist Australier, arbeitete aber etliche Jahre in England. Als er 2004 endgültig nach Hause kam und auf dem Flughafen in Sydney landete, wurden seine Mitreisenden schon sehnsüchtig erwartet. Doch keiner war da, um Juan zu begrüßen. Niemand freute sich auf ihn. Keiner nahm ihn in den Arm.
Er vergrub sich aber nicht in seiner Einsamkeit, sondern bemalte ein Schild mit den Worten „Free Hugs“. (Übersetzt bedeutet das so viel wie „kostenlose Umarmungen“.) Mit diesem Schild machte er sich auf den Weg in die Fußgängerzone von Sydney. Nachdem sich die ersten Menschen dazu überwanden, den Fremden zu umarmen, war es wie mit dem berühmten Stein, den man ins Wasser wirft: Die Bewegung breitete sich aus. Bis zu uns nach Deutschland.
Es ist und bleibt ein Grundbedürfnis. Umarmen wir uns doch häufiger. Einfach so, weil ich Dich sehe, Dich wahrnehme, weil Du hier bist, mit mir bist.
Das geht weit über die „Bussi-Bussi-Gesellschaft“ hinaus.
Als das Paar die Sprechstunde verließ, war klar geworden: Wenn wir offen und vertrauensvoll darüber sprechen, weicht die Angst vor Zurückweisung. Beide umarmten sich am Schluss. Sie werden Übende bleiben. Aber ein Anfang ist gemacht.
Schenken wir uns öfter eine Umarmung.
Sie kostet nichts. Und tut so gut.
Nachbetrachtung:
Zu den Free Hugs: Das Video von den Ursprüngen über das Polizeiverbot und die Legalisierung bis zur Ausbreitung der Idee wurde vom Sänger der Band „Sick Puppies“ auf YouTube ins Internet gestellt. Bis jetzt gab es an die hundert Millionen Aufrufe, wodurch die Idee von Juan Mann zu einer weltweiten Bewegung wurde.
Zur praktischen Anwendung: Auf dem Rückflug von Kreta korrigiere ich den ersten Ausdruck dieser Geschichte. Unbemerkt steht die Stewardess im Gang und liest mit: Warum umarmen wir uns so selten? – „Das ist eine schöne Frage, die Sie stellen“, bemerkt sie. Ihre Augen leuchten. Sie hat sich offensichtlich an der fettgedruckten Überschrift festgelesen. Und ergänzt nach kurzer Pause: „Ich kann sie Ihnen auch beantworten. Weil wir zu wenig Nächstenliebe haben. Weil wir zu egoistisch geworden sind. Weil wir nicht mehr gelernt haben, uns selbst und den anderen liebevoll wahrzunehmen.“ Toll. Ein schöner Kommentar.
Beim Ausstieg aus dem Flugzeug frage ich sie nach ihrem Namen. „Angelina – wie Angelina Jolie“, wirft ein Kollege ein. Angelina – wie Angelina Jolie – kommt mir einen Schritt entgegen. „Ja, dann lassen Sie sich mal drücken!“ Wir umarmen uns. Der Kollege lächelt. Ist eigentlich ganz einfach …
Offene Arme sind allemal besser als verschränkte Arme.
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp