Selber laufen lernen!

In ganz jungen Jahren krabbelten wir auf alles zu, was uns interessant und spannend erschien. Später fingen wir an, uns aufzurichten, am Tischbein oder am Bein von Mama und Papa, um die schwierige Koordination und Balance für ein Leben auf zwei Füßen zu lernen. Wir fielen hin – und versuchten es erneut. Immer und immer wieder. Und irgendwann gelang es uns. Trotzdem fielen wir wieder hin. Und versuchten es erneut.

Alle von uns haben es mit viel Übung irgendwann geschafft. Wir haben laufen gelernt. Und wenn uns später keine Krankheit oder das Alter an Rollstuhl oder Krankenbett fesseln, laufen wir immer noch auf beiden Beinen und im aufrechten Gang durch unser Leben. 

Das kann aus psychischer Sicht ganz anders sein. Da verhalten sich viele erwachsene Menschen noch so, als ob sie ständig liegen bleiben müssten. Als wollten Sie geschaukelt werden wie in der Kinderkrippe. Als wäre Verantwortung für die eigene Entwicklung und Entfaltung ein Fremdwort. 

Ja, manche suhlen sich geradezu in ihrer Opferhaltung. Sehe ich mich und mein Leben als Opfer anderer Umstände oder Personen, brauche ich ja keine Verantwortung für mein Leben zu übernehmen. Denn ich bin ja nicht schuld. Die Umstände sind es, meine Eltern, der Lehrer, der Chef, die Mitmenschen, die Religion, die Politik… Das Gestern, das Morgen, das Heute sowieso. Wie soll meine Seele da laufen lernen? 

Also flüchten sie in Abhängigkeiten, um sich selber nicht zu spüren. Und den Ruf der Seele, jetzt endlich die ersten Schritte zu machen, nicht zu hören.

Sie werden abhängig vom Partner, vom Alkohol, von Drogen, Süßigkeiten, Zigaretten, von Sex und Fernsehen, von Internet-Foren und -Spielen. Und nicht selten auch vom Therapeuten. 

Die Seele wachsen, ja erwachsen werden zu lassen, bedeutet ständige Übung. Und setzt die Bereitschaft voraus, aus der Abhängigkeit der Opferrolle (einer der größten Fallen aller Selbstsabotage-Programme) wirklich ausbrechen zu wollen. 

Willst Du das wirklich? Richtig wirklich und wahrhaftig?

Dann wird es jetzt hart für Dich. Denn nun gibt es keine Rechtfertigung mehr, liegen zu bleiben und mit dem Finger auf die vermeintlich „Schuldigen“ zu zeigen. 

Jetzt musst Du bereit sein, Deiner Seele Raum zu geben und Verantwortung zu übernehmen. Aufstehen, hinfallen, wieder aufstehen… wie damals, vor langer Zeit, als es mit dem Stehenbleiben ja auch geklappt hat. Deshalb: Immer wieder aufstehen (auch seelisch), immer wieder sagen: Es geht doch!

Und hat nicht derjenige Erfolg im Leben, der einmal mehr aufsteht als er hinfällt? Denn der bleibt am Ende stehen! – Fang also an, selber, ganz für Dich laufen zu lernen.

Es ist auch niemals die Aufgabe eines Therapeuten, die Probleme des Patienten zu lösen. Kein Therapeut dieser Welt ist „Lösungsgeber“, geschweige denn „Lösungsübernehmer“. Jeder Therapeut kann aber eine Hebammen-Funktion annehmen, nämlich das ans Licht zu begleiten, was im Patienten an inneren Schätzen und Ressourcen angelegt ist. Er, sie kann Mut zum Wachstum machen. Insofern ist der Therapeut eine Art Krücke, auf die man sich eine Zeitlang stützen kann. Laufen lernen, lebenstüchtig werden, muss jeder normal begabte Mensch selber. Das hat das Leben so vorgesehen. 

Um die Not zu wenden, sind Wandlungen also unerlässlich. Die amerikanische Schriftstellerin Anaïs Nin (1903-1977) wählte hierzu einen poetischen Vergleich: „Und es kam der Tag, da das Risiko, in der Knospe zu verharren, schmerzlicher wurde als das Risiko zu blühen.“

In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp