Es ist oft ein langer Prozess, sich zu öffnen und sich verwundbar zu zeigen. An Knospen und Blüten lässt sich das gut beobachten.
Wenn es die Hauptaufgabe der Knospen wäre, sich zu schützen, würde es kein blühendes Leben geben. Keine Vielfalt an Farben. Zwar dunkelgrün oder braun, aber kein rosenrot, kein hyazinthengelb, -violett, -lachs, -weiß, -rosa. Kein Lavendelblau. Keine Farbtupfer.
Was nicht aufblüht, verschrumpelt im Leben.
Vor vielen Jahrzehnten faszinierte mich ein Rhododendronstrauch im Garten hinter meiner Praxis. Ehrlich gesagt: Seine Knospen im noch frühen Jahr rissen mich nicht vom Hocker. ‚Alles ein Abwasch‘, dachte ich. ‚Irgendwie tot‘. Gut, damals war ich noch ein Naturbanause. Etwas später im Jahr krempelten seine aufbrechenden Blüten mein ganzes Leben um.
Und so begann ich, mit meiner alten Polaroidkamera jedes Stadium der Pflanze festzuhalten. Vom stummen Einerlei der Knospen … über das erste zarte Aufplatzen … und die verschwenderische Pracht der Blütenkelche, die sich in einer unglaublichen Harmonie miteinander verbanden … bis zum Vergehen der Farben und dem Abfallen der Blüten.
Manchen Patienten zeigte ich nur die Fotos mit den geschlossenen Knospen – überschlug die wunderschöne Symphonie der Blüten – und blätterte unmittelbar die Bilder mit den abgestorbenen braunen Blättern auf. „Natürlich lässt sich in der Knospe auch leben“, war mein Kommentar. Aber: „Die Menschen, die sich öffnen …“, ich schlug zu den strahlenden Blütenfotos zurück … „Sie haben wirklich gelebt. Auch sie werden verblühen. Aber zuvor haben sie ihren inneren Glanz wunderschön nach außen strahlen lassen.“
Wer nicht aufblüht, verschrumpelt im Leben.
Das sah die amerikanische Schriftstellerin Anais Nin (1903-1977) ähnlich. Sie stärkte die Hoffnung zum Aufbruch mit den Worten: „Und es kam der Tag, da das Risiko, in der Knospe zu verharren, schmerzlicher wurde als das Risiko zu blühen.“
In herzlicher Verbundenheit
Georg Rupp